Zwischen Harz & Heide (FW#42)

FolkWorld Ausgabe 43 11/2010; Live-Bericht von Walkin' T:-)M


Presseschau

LaiQuendi @ Folkus 2010

Funke will nicht überspringen

Sagax Furor spickten den "Sonnentanz" mit Elementen des Deep Purple-Klassikers "Smoke on the Water" oder stimmten "Last Christmas" an. Die Sonnengötter (Dectera Lugh [FW#43]) [spulten] professionell ihr Programm ab. Das ist Mittelaltermusik melodisch mit reichlich Rhythmus und erdigem Gesang. Verspielte Melodien mit außergewöhnlichen Arrangements und einer starken Sängerin. [SZ, 26.07.2010]

Spielfreude ist deutlich hörbar

"Blues ist das Beste, was es gibt, wenn man ihn konsequent vor sich herschiebt." Hier tummelt sich eine lebendige Mischung aus Country Blues, schwärzestem New Orleans Blues, weißem Blues und natürlich Stoppoks [#42] originärem Lied-, Sing- und Spiel-Stil. Da werden Wahrheiten aufgedeckt, die so mancher Konzertbesucher selbst erlebt hat. "Sei froh" (wie schön, dass die Hose nicht reden kann), oder "Willi und Wilma im Urlaub" (Afrika ist enttäuschend, wenn man Tarzan-Filme kennt). [WZ, 03.08.2010]

Kanaldeckel mit Sogwirkung

Von wilden Trinkliedern bis hin zu Anleihen aus der Klassik: Das Spektrum des Tages der Weltmusik konnte breiter kaum sein. The Les Clöchards schafften es, eine Sogwirkung in Richtung Bühne zu erzeugen. Zerrissene Kleidung und schmutz-verschmierte Gesichter. Doch schon nach wenigen Liedern war das Publikum hellwach statt angewidert. Die fünf Witzbolde machten Partymusik nach bestem Leningrad-Cowboys-Vorbild. Ska, Polka, Tango und sogar ein Ausflug in die Welt der Klassik zu Johann Pachelbel. Bei den Fiddler’s Green [#38] änderte sich das Bild vor der Bühne. Eine stattliche Zahl extra angereister Fans der Speed-Folker aus Erlangen ließ sich nicht lang bitten und tanzte munter Pogo. [SZ, 09.08.2010]

Paare wiegen sich im Wiegeschritt

Sie tanzen Tango im Dämmerlicht, draußen vorm Schloss, wo das Cuarteto Bando und Caio Rodriguez das Fest der Kulturen 2010 eröffnet haben, in dessen Mittelpunkt in diesem Jahr ein Instrument steht. Das Bandoneon. Es war das "Klavier des kleinen Mannes". Es war damals dank seiner schwingenden Töne, dem Klappern der Knöpfe und den unverwechselbaren Luftgeräuschen beim Spielen rasch beliebt. Um 1900 brachten es deutsche Auswanderer nach Argentinien. Von dort ist das Bandoneon und mit ihm der Tango zurück gekehrt nach Europa, nach Deutschland, nach Wolfsburg. [BZ, 04.09.2010]

Das Blaue Einhorn wird umjubelt

Vier Musiker, die sich Klezmer und Tango auf die Fahne geschrieben haben [FW#41]. Auf der Bühne vor dem Schloss haben sie die Zuhörer rasch für sich gewonnen – mit rhythmischem Schwung, instrumentaler Virtuosität und ausdrucksstarkem Gesang. Während die "Einhörner" Tango präsentierten, gab im Schlosshof Stefan Weyh ein spezielles Konzert: Mit Harfe und Alphorn sorgte er für ein akustisches Erlebnis mit Seltenheitswert. In den Remisen spielte Rainer Volkenborn vor faszinierten Zuhörern Kompositionen für das Bandoneon. [BZ, 06.09.2010]

Leonard Cohen in der TUI Arena

Die äußeren Umstände – perfekt. Draußen ist genau das Wetter, um drinnen Leonard Cohen zu hören. Seine unglaubliche Stimme, die Geheimnis und Geborgenheit birgt, Weisheit und Würde, und die das Publikum nun mehrere Stunden wie eine Flauschdecke einhüllen wird. Er streift durch seine gut 40-jährige Musikerkarriere, erzählt seine bittersüßen Geschichten, zelebriert oft mehr beschwörend als singend seine Dichtkunst. [HAZ, 28.09.2010]

Das Blaue Einhorn @ Folkus 2010

FolkWelt zwischen Harz & Heide
Liederjan + Iontach = Liedertach

Liedertach

An rud is annamh is iontach, lautet ein altes irisches Sprichwort: Seltenes ist wundervoll! Das könnte auch für diesen Auftritt der Deutschfolk-Veteranen Liederjan gelten, die zusammen mit der irisch-deutschen Formation Iontach nicht nur ihre Wurzeln im Irish Folk erkunden, sondern zudem noch eine deutsch-irische Synthese besonderer Art eingehen.

Iontach

Iontach @ FolkWorld: #30, #32, #34, #34, #37, #38

Icon Sound @ www.myspace.com/iontachband

www.iontach.de

Die irische Flötistin und Geigerin Siobhán Kennedy, Sängerin Angelika Berns und Multi-Instrumentalist Jens Kommnick (Gitarre, Bouziuki, Cello, Geige, Uilleann Pipes) sind seit nicht ganz zehn Jahren gemeinsam als Iontach unterwegs. Die Ur-Zelle ihrer Mitstreiter hingegen lässt sich vor mehr als vier Jahrzenten ausmachen.

Auf einem ihrer letzten Alben sangen die Liederjans: Insel der Lieder, der Flöten und Geigen, Insel der Gelassenheit, Insel der Heiligen und Rebellen, Insel mit viel, viel Zeit, Insel der Dichter und des schwarzen Bieres mit dem festen weißbraunen Schaum. Der musikalische Ursprung des norddeutschen Folk-Kollektivs lag nämlich auf der grünen Insel Irland und in den nebligen Bergen und Tälern der schottischen Highlands.

Die Studenten Jörg Ermisch, Anselm Noffke und Jochen Wiegandt waren im Revolutionsjahr 1968 der Betriebswirtschaft müde und beschlossen über ein paar Bieren in einer Gastwirtschaft, lieber Musik zu machen - und zwar keltische. Sie nannten sich Tramps & Hawkers nach dem bekannten schottischen Hökerlied aus dem 19. Jahrhundert: Come a' ye Tramps an' Hawkers an' gaitherers o' bla' that tramps the countrie roon' an' roon, come listen ane an' a' ... (siehe z.B. Aufnahmen von -> FW#31, #38).

Zu Beginn der siebziger Jahre entdeckte die Gruppe deutsches Liedgut für sich. 1975 hatten Liederjan, so nannte das Trio sich nun, ihren ersten öffentlichen Auftritt. Der Rest ist Geschichte: mehrere Schallplatten mit "Deutschen Volkslieder aus fünf Jahrhunderten" wurden eingespielt. Die Gruppe kann sich auf die Fahnen schreiben, das deutsche Folkrevival mitverursacht und mitgeformt zu haben. Im Laufe der Jahre und Jahrzehnte kamen immer mehr eigene Stücke dazu - meist satirischen und gesellschaftskritischen Inhalts, sodass man ihr heutiges Programm als Musikkabarett bezeichnen kann.

Liederjan

Liederjan @ FolkWorld: FW#12,
#17, #17, #18, #24, #27, #32, #43

Icon Sound @ www.myspace.com/liederjan

www.liederjan.com

Jörg Ermisch ist das einzige verbliebene Gründungsmitglied. Er verfasst die meisten Lieder und spielt ein Instrumentenarsenal, das von Gitarre und Cello bis Posaune und Saxophon reicht. Hanne Balzer, die Tuba, Flöte und Akkordeon spielt, hat vor sechs Jahren als erstes weibliches Bandmitglied in der Geschichte Liederjans den verstorbenen Anselm Noffke ersetzt.

Dritter im Bunde ist seit Beginn des Jahres Michael Lempelius. "Lemmi" wurde zwar schon als Teenager zu Liederjan-Konzerten geschleppt, erfuhr seine musikalische Sozialisation aber durch die Dubliners (#23) und erlernte zunächst das Five-String-Banjo, bevor er zur irischen Bouzouki wechselte. Seit einigen Jahren bildet er u.a. ein Duo mit der Geigerin Sabrina Palm (#35, #40).

Ist das Projekt Liedertach im 35sten Jahr des Bandbestehens nun eine Rückkehr zu den irischen Wurzeln Liederjans? Mitnichten! - wehrt sich Jörg Ermisch ganz entschieden. Die Initiative ging vielmehr von Jens Kommnick aus, der vor einigen Jahren am Rande des Ahmstorf-Festivals vorschlug, mal etwas gemeinsam zu machen. Vermutlich waren wieder mal einige Bierchen im Spiel.

Es hat dann doch fünf Jahre gedauert, das Projekt auf die Beine zu stellen. Nach 2Duos (#39) jetzt also 2Trios. Sie sind also nicht die einzigen und die ersten, die irische und deutsche Traditionen miteinander verbinden, können aber immerhin für sich verbuchen, dass in ein und derselben Band - wie Jens witzelt - eine Frau mit Migrationshintergrund und zwei Glatzen miteinander musizieren. Die öffentliche Uraufführung fand im September 2009 statt. Man ging ins Studio und hat ein Album eingespielt und gibt nun regelmäßig gemeinsame Konzerte.

Und so waren die sechs Liedertachs am 6. August 2010 auch bei Kultur unter Glas in Braunschweig. Der Förderverein Dowesee veranstaltet seit 2003 in den Sommermonaten Konzerte im gläsernen Gewächshaus des zwischen Siegfriedviertel und Schuntersiedlung versteckt gelegenen Schul- und Bürgergartens am Dowesee.

Liedertach

Liedertach beginnt ihr Programm mit einem Medley bestehend aus einem deutschen und einem irischen Tanzstück. Das macht die Zuhörer sofort mit der Grundidee des Projektes bekannt: zwei Traditionen ununterscheidbar miteinander zu verschmelzen. Sowohl Liederjan-Fans als auch Freunde irischer Folkmusik müssen sich auf Ungewohntes, Ungehörtes und Unerhörtes einstellen. So erklingen gleichzeitig irischer Dudelsack und Tuba, irische Rahmentrommel und Sopransaxophon. "Auf dem Tanzboden" folgt der "Abbey Reel". Bei der dargebotenen Version tänzeln die Klosterbrüder recht gemächlich durch ihre Gewölbe (wenn der Titel überhaupt mit einer Abtei zusammenhängt; er mag auch mit dem Dubliner Abbey Theatre oder einem gleichnamigen Ort im Co. Galway zu tun haben); etwas rasanter ist der Reel auf der ersten Iontach-CD "The Half Gate" zu hören.

Jörg Ermisch singt anschließend "Ich hörte gestern Abend", ein altes Liebeslied aus dem 16. Jahrhundert. Dann sind die drei Mädels alleine für sich dran. Sie tragen acapella "Hunting the Hare" des irischen Dichters und Liedersammlers Alfred Perceval Graves vor. Es wird wieder instrumental. Zusammen spielen sie den von Siobhan und Jens verfassten und auf der zweiten Iontach-CD enthaltenen "Waltz of the Golden Rings". Dabei erklingen zwei Celli (Jens und Jörg), und wiederum tun sich ganz neue Erfahrungshorizonte auf.

Es folgt als Iontach-Feature "Ripples in the Rockpool", als Liederjan-Feature eine typische Kabarettnummer mit drei Ukuleles gespielt. Jetzt wird es interessant: macaronic nennt man in Irland Lieder mit abwechselnd englisch- und gälisch-sprachigen Zeilen oder Strophen. Siobhan hat eine neue Melodie zu dem bekannten traditionellen "Cad é sin don té sin" verfasst (vgl. #2, #5, #18, #41). Sie singt die gälischen Strophen, Angelika eine englisch-sprachige und Jörg hat sowohl eine hochdeutsche als auch eine plattdeutsche beigesteuert. Aus dem Kehrreim what concern is that of yours, just leave me alone wird hört auf mich zu belauern und lasst mir meine Ruh bzw. dat haut die ut de Latschen, ik sech: Klei mi an'n Mors!

Liedertach

Liedertach "Liedertach"
Westpark Music; CD 87196; 2010

1. Auf dem Tanzboden/The Abbey Reel 2. Cad É Sin Don Té Sin/Hopp Marjännche 3. Ich hörte gestern abend 4. Fairies' Hornpipe/Saddle the Pony 5. Aus Texas/Green Among the Gold 6. Jägerquadrille/The Sheik's Fancy 7. Waltz of the Goden Rings 8. Hunting the Hare 9. Feins, brauns Maidelein 10. Music for a Found Harmonium 11. Heide/La Valse des Jouets 12. The Flowing Bowl/The Milliner's Daughter 13. The Parting Glass

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Anschließend geht es in die Pause. Im zweiten Programmteil spielen die Buben das traditionelle "Feins, Brauns Maidelein". Bei dem Medley bestehend aus dem "Fairies' Hornpipe" und dem Jig "Saddle the Pony" wird aus zwei Trios drei Duos, es erklingen jeweils zwei Konzertinas (Jörg und Siobhan), zwei Bouzoukis (Jens und Michael) und zwei Whistles (Angelika und Hanne).

"Music For A Found Harmonium" ist eine Komposition von Simon Heffes vom Penguin Cafe Orchestra, das vor Jahren bereits von irischen Musikern als Reel adaptiert wurde (vgl. #35). Aber zuvor klemmt eine Taste an Hannes Akkordeon und während der Notoperation ergibt sich die Gelegenheit für Jens, dem Publikum einen Witz zu erzählen, und Iontach und Michael improvisieren spontan ein Set irischer Tunes.

Zwei Auswandererlieder zeigen deutsche und irische Parallelen im 19. Jahrhundert: "Aus Texas" stammt von Hoffmann von Fallersleben und "Gold Among the Green" ist vom australischen Folkduo Steve und Rosalind Barnes. Beide Stücke werden nicht lieblos aneinandergehängt, sondern miteinander verwoben. Das gilt auch für die "Jägerquadrille" aus dem Ammerland und der vom irischen Akkordeonisten Paddy O'Brian komponierten "Sheik's Fancy Polka".

Dann scheint der kurzweilige Sommerabend auch schon vorbei zu sein. Doch es folgen Zugaben satt: Der "Flowing Bowl"-Reel wird geliltet, d.h. gesungen, anstatt auf Instrumenten gespielt. Da hätten sich die sechs aber auch das Schleppen ihres Instrumentenparks ersparen und dem Tontechniker einigen Stress ersparen können. Das populäre irische Abschiedslied "The Parting Glass" bildet den sechsstimmigen Abschluss.

Und da das Volk noch nicht genug hat, singen sie noch zusammen Lustig, lustig, ihr lieben Brüder, leget alle Arbeit nieder und trinkt ein Glas Champagnerwein. Denn unser Handwerk, das ist verdorben, die besten Saufbrüder sind gestorben, es lebet keiner mehr als ich und du, das seit den späten Siebzigern von Liederjan gespielte Handwerkerlied aus der Mitte des 19. Jahrhunderts - für all diejenigen, die nur für Liederjan gekommen sind.

An diesem Abend sind zwei unterschiedliche musikalische Welten aufeinandergetroffen. Es hat sich aber gezeigt, dass es doch mehr Gemeinsamkeiten gibt, als man gemeinhin so denkt. Musik ist eben eine universelle Sprache. Und beim Aufbruch rätseln die Konzertbesucher, welche Mathematik hier anzuwenden war: ist 3 plus 3 gleich 6, oder gilt 32 ...

Jörg Ermisch Als Kind lernte er Cello spielen und hat noch heute die Worte seiner Eltern und anderer Verwandter im Ohr: "Sieht der Junge nicht süß aus, wenn er so ernst guckt?" Dabei ist der Multi-Musiker viel lieber humorig – und so entwickelte sich auch das Trio Liederjan im Laufe der Jahre von der reinen Folk-Gruppe zum satirisch-gesellschaftskritischen Musikereignis. Auf das Streichinstrument Cello ist er schon lange nicht mehr festgelegt, er zupft auch die Gitarre, spielt die Tasten des Akkordeons, bläst in Posaune, Flöte, Trompete, Saxofon und spielt, wenn’s passt, auch mal die singende Säge. Und natürlich singt er auch – und schreibt die meisten Liederjan-Stücke selbst.

Leser fragen: Liederjan-Gründer Jörg Ermisch

Der Hamburger ist Kopf der norddeutschen Folk-Gruppe Liederjan. Sein Studium brach er ab, um professionell Musik zu machen - zunächst in Jazz-Bands, dann mit irisch-schottischer Folklore, seit 1975 dann als Gründungsmitglied der Deutsch singenden Gruppe Liederjan. Zusammen mit der deutsch-irischen Folkgruppe Iontach traten Ermisch und Liederjan jetzt in einem ehemaligen Gewächshaus am Braunschweiger Dowesee auf.

"Wer in einer Band spielt, muss ein Spinner sein"

Wolfgang Jahns: Warum nennt sich die Band eigentlich Liederjan?

Jörg Ermisch: Der Name wurde vor 35 Jahren eigentlich aus einer Not geboren. Von der irische Volkslieder singenden Gruppe Tramps & Hawkers waren wir auf deutsche Lieder umgestiegen und brauchten relativ plötzlich einen neuen Namen. Mein alter Kumpel Jochen (Wiegandt) hatte dann die Idee zu Liederjan, was eigentlich ein altmodisches Schimpfwort ist für jemanden mit liederlichem Lebenswandel. Wir dachten, mit der Bezeichnung können wir uns arrangieren. Es hat natürlich auch die Bedeutung eines Wortspiels. Wir singen ja nun mal Lieder, und das in Verbindung mit einem Männernamen – wir waren ja damals zusammen mit Anselm Noffke drei Männer –, das passte.

Jahns: Liederjan war jetzt das dritte Mal bei Kultur unter Glas, wenn auch diesmal zusammen mit der irischen Band Iontach. Sie kommen bestimmt auch ein viertes Mal. Wenn ich Freunden von Liederjan erzähle, ist es schwer zu erklären, was für Musik zu erwarten ist…
Wir wissen selber nicht so genau, welchem Genre man uns zuordnen kann. Wir haben uns jetzt durchgerungen zu der Formulierung: Ist es Kabarett? Ist es Folk? Ist es Comedy oder was auch immer? Es ist von allem ein bisschen, aber es ist im Wesentlichen "Liederjan". Es ist wirklich schwer zu erklären, man muss uns eigentlich sehen und hören, um Bescheid zu wissen.

Thomas Dahl: Die Band hat sich von traditioneller Folkmusik ja doch mehr hin zum Musikkabarett entwickelt. Gibt es heute etwas, das sie extrem motiviert, zeitkritisch zu bleiben?
Das gibt es permanent. Wenn man Nachrichten sieht oder Zeitung liest, dann hat man seine Themen oder zumindest Versatzstücke gewissermaßen auf der Hand liegen. Für aktuelle politische Lieder muss man nach Themen nicht lange suchen. Die Schwierigkeit ist nur immer, das in vernünftige Form zu bringen. Wenn man zu sehr das Tagesaktuelle herauspicken würde, hätte man Stücke, die man gerade mit der Band eingeübt hat, und dann ist ein Minister oder so schon wieder weg. Dann hat man ein schönes Stück, gelungen – aber zack ist es dann schon wieder nur noch Geschichte.

Dahl: Ich fühle, dass sich ein bisschen Ignoranz in der Gesellschaft zu politischen Themen entwickelt…
Dieser Trend, den sie gerade nennen, den kann man natürlich auch aufgreifen und verarbeiten.

Detlef Rickert: Ich habe kürzlich beim Barden-Treffen in Nürnberg unzählige Gruppen aus aller Welt gesehen, aber es gab kaum eine Band, die auf Deutsch gesungen hat. Gibt es keinen Nachwuchs für Liederjan und die Musik, für die die Gruppe steht?
Michael Lempelius

Ich habe zwei Kinder – und Michael (Liederjan-Mitglied Michael Lempelius) hat drei. Aber im Ernst: Ausländische Sprache ist auch in der so genannten Weltmusik ein schönes Feigenblättchen, dass man sich nicht wirklich mit der eigenen Geschichte auseinandersetzen muss. Sobald man die deutsche Sprache benutzt, muss man sich eben auch gefallen lassen, dass die Leute fragen: Was singt ihr da eigentlich? Den Trend sehe ich derzeit genauso. Es gibt da aber gewisse Wellenbewegungen. Als wir angefangen haben, uns mit Folklore zu beschäftigen, da haben wir auch irische, schottische und englische Sachen gesungen. Als wir auf Deutsch umschwenkten, gab es auch außerhalb der Folkszene eine Bewegung, zum Beispiel mit Lindenberg, die auf Deutsch gesungen hat. Mitte der 70er-Jahre polarisierte die Sprache, in der man sang. Da kamen Leute in die Läden, hörten einer Band kurz zu und sagten dann: "Oh scheiße, die singen ja Deutsch" und gingen postwendend wieder raus. Andere waren davon total berührt.

Dahl: Es gab im Laufe der Jahre einige personelle Wechsel bei Liederjan, besonders was das dritte Mitglied neben Ihnen und Hanne Balzer angeht: Was hat den Ausschlag gegeben, jetzt mit Michael Lempelius zusammenzuarbeiten?
Hanne ist ja sozusagen die Nachfolgerin von Anselm Noffke, dessen Ende bei Liederjan mit seinem Tod ja nicht freiwillig war. Über die lange Zeit betrachtet, gab es ja gar nicht so viele Wechsel des dritten Mannes. Jedes Bandgefüge hat mehrere Aspekte. Zum einen, dass man musikalisch was zusammen machen kann. Und dann muss aber auch die Chemie noch stimmen. Bei einem Projekt in Kiel sind wir auf Michael getroffen. Er ist ein guter Gitarrist. Er schien Humor zu haben und wollte auch gern mal etwas Deutsches machen. Unabhängig von bestimmten Personen muss man natürlich sagen: Jeder, der sich auf so ein Bandprojekt einlässt, muss natürlich im gewissen Sinne auch ein Spinner sein.

Rickert: Ist es für Sie als Ur-Liederjan zwischen all den Jüngeren irgendwie stressig und sind Sie derjenige, der die Richtung angibt? Für den normalen Fan ist Jörg Ermisch ja eigentlich der "Mister Liederjan".
Sagen wir mal so: Es wächst einem aus dem Alter auch eine gewisse Autorität zu. Bei Liederjan bin ich nun mal der Dienstälteste. Natürlich machen wir alles demokratisch. Aber wenn ich sage, dass ich aus dem und dem Grund etwas blöd finde, dann hat das natürlich ein gewisses Gewicht. Jeder soll sich ja einbringen. Aber es gibt manchmal Situationen, in denen ich auch mal "nö" sage.

Dahl: Normalerweise tritt Liederjan zu dritt auf – und das seit 35 Jahren. Ist eine Geburtstagsveranstaltung geplant, etwa mit alten Bandmitgliedern wie Jochen Wiegandt, Rainer Prüss oder Klaus Irmscher, der vor Michael Lempelius mitgespielt hat?
Jens Kommnick & Hanne Balzer

Das 35-jährige Jubiläum feiern wir in Hamburg bei Alma Hoppe im Lustspielhaus am 24. Oktober. Da kommen viele Gäste, aber es sind auch viele von den Alten dabei. Von denen haben Rainer, Jochen, Klaus, Jürgen Leo und Edzard Wagenaar zugesagt. Mit denen werden wir auf der Bühne auch etwas zusammen "bruzzeln".

Jahns: Sie haben Betriebswirtschaftslehre und Architektur "erfolgreich abgebrochen", steht auf der Liederjan-Homepage. Ist Musik besser?
Ich bin meinem Vater zuliebe zum BWL-Studium gekommen. Er war Wirtschaftsprüfer und Steuerberater. Nach dem Abitur wusste ich nicht genau, was ich machen soll, und der Alte sagte dann halt, dann machst du mal schön Betriebswirtschaft. Und ich dachte: Ja, warum nicht? Dann habe ich das ’ne Weile studiert, dann stellte sich raus, das war doch blöd. Aber in Hamburg gibt’s nette Kneipen und nette Leute – da habe ich meine späteren Liederjan-Kumpane auch alle kennengelernt. Architektur war so ein Neigungsding. Ich musste dem Alten etwas anbieten, vielleicht auch wegen der finanziellen Unterstützung. Aber ich wollte vor allem etwas Kreatives machen. Das Architekturstudium hat mir auch viel Spaß bereitet, als Architekt hätte ich später auch gern gearbeitet. Aber dann wurde die Musik, die ich nebenbei gespielt habe, auf einmal so lukrativ, dass ich gesagt habe: So, hier breche ich das Studium ab und mache nur noch Musik.

Rickert: Kann man denn eigentlich von solchen Konzertauftritten leben?
Es gibt Phasen, wo es gut geht und solche, in denen es nicht so gut geht. Die Zeiten werden natürlich insgesamt nicht einfacher.

Dahl: Am Freitag beim gemeinsamen Konzert mit dem Trio Iontach haben Sie bei einem Instrumentalstück Sopransaxofon gespielt. Da hatte ich das Gefühl, Sie fangen jetzt an, Jazz zu spielen. Was dürfen wir von Liederjan in Zukunft erwarten?
Ich komme auch ein bisschen vom Jazz, habe in einigen Jazz-Kapellen gespielt. Das ist noch drin, da kann man gar nichts machen. Mit dem Saxofon und auch mit anderen Instrumenten wollten wir bewusst ein bisschen die traditionelle Form brechen. Da habe ich gern mal für ein paar Töne gejazzt. Das ist aber kein Hinweis, in welche Richtung wir uns entwickeln werden. Schon früher, als Rainer Prüss mit uns gespielt hat, gab es häufiger ein paar Swing-Elemente. Man kann so etwas immer mal spielen, wenn’s passt.

Rickert: Liederjan tritt also auch weiter als Trio ohne Iontach auf?
Ja klar. Das ist jetzt so ein Projekt, das als Idee mal nach einem Festival entstanden ist. Aber hauptsächlich sind wir weiter als Trio Liederjan unterwegs.

[Braunschweiger Zeitung, 10.08.2010]

Termine 2010/2011

Caladh Nua

11. Nov. 2010 - IRISH FOLK FESTIVAL. Forum, Peine; www.irishfolkfestival.de

27. Nov. 2010 - CELTIC CHRISTMAS. Kniestedter Kirche, Salzgitter-Bad; www.salzgitter.de

10. Dez. 2010 - BLUEGRASS JAMBOREE! Kulturfabrik Lösecke, Hildesheim; www.bluegrassjamboree.de

9. März 2011 - IRISH SPRING. Kulturfabrik Lösecke, Hildesheim; www.irishspring.de

19. März 2011 - FOLK IN DER BURG. Wasserburg Salzgitter-Gebhardshagen; www.dunaengus.de

7./8. Mai 2011 HIGHLAND GATHERING. Peine; www.highlandgathering-peine.de

18.-29. Mai 2011 MASALA WELTBEAT FESTIVAL. Hannover; www.masala-festival.de

24.-25. Juni 2011 - WILDE TÖNE. Braunschweig; www.wilde-toene.de

Photo Credits: (1), (7)-(9) Liedertach, (2) LaiQuendi, (3) Iontach, (6) Das Blaue Einhorn (by Walkin' Tom); (4) Liederjan (from website); (5) Liedertach CD Cover (by Westpark Music).


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© The Mollis - Editors of FolkWorld; Published 11/2010

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