FolkWorld #70 11/2019
© Walkin' T:-)M

English Book Reviews

T:-)M's Nachtwache

Jetzt wird gejodelt ... Der amerikanische Schriftsteller Mark Twain bestieg 1878 in der Zentralschweiz das Bergmassiv Rigi, um dieses Tiroler Trällern, das er bereits aus seiner Heimat kannte, an seiner Geburtsstätte zu erleben.

Im Rahmen einer Feldforschung in und um St. Gallen durch das Steirische Volksliedwerk und Grazer StudentInnen des Masterstudiums Volksmusik wurden 2018 rund 140 Lieder und 30 Jodler aufgezeichnet. 32 Stücke davon lassen sich nun im Liederheft In da grean Buachau håb i im Tål koa Ruah, zwei- bis dreistimmig gesetzt, mit Begleitakkorden, finden. Diese Feldforschung war auch Anlass, sich im aktuellen "Vierzeiler" näher mit der Region Steirische Eisenwurzen (ein Teil der Kalkvoralpen im Dreiländereck Niederösterreich, Oberösterreich und Steiermark) zu beschäftigen. Historisches Zentrum ist der Erzberg, der größte Eisenerztagbau Mitteleuropas und das größte Sideritvorkommen weltweit; dementsprechend wird die Geschichte der Eisenverarbeitung, aber auch Trift und Flößerei, das Stift Admont und der Natur- und Geopark Steirische Eisenwurzen beleuchtet.

In da grean Buachau håb i im Tål koa Ruah - Lieder und Jodler aus der Feldforschung rund um St. Gallen. Steirisches Volksliedwerk (meine Lieder – deine Lieder 19/1), 2019, 32 S, €3,50


Kein alpines Gejodel, sondern Yodel-freies Americana, auch wenn auf Schwyzerdütsch parliert wird; nicht Sankt Anton, sondern San Antonio Texas ist musikalischer Bezugspunkt für Manfred Roosens, alias Gschechtesänger Mandrin, wohnhaft in Bürglen im Kanton Uri. s'chond scho guet (alles wird gut) lautet die Devise für 16 gesungene Geschichten über komischi Vögel, seltsami Mönsche, Einzelgänger, die grosse Härze, ehrliche Gschtalte. Es ist ein Soundtrack der Gelassenheit (freu mi eifach dra, dass ned alli Rose hasse, wöu eini mi hed gstoche) und Entschleunigung (ech nues das ganze Gjufu nömme ha, s'Gras ghöre wachse, de Fues i de Tör). Fragen und Probleme werden nicht aus der Welt geschafft, sondern aufgeschrieben, ein Song gebastelt und ad acta gelegt Lösig chond vo löse, entscheide chond vo scheide. Alle Lieder umfassen Background-Info sowie Originaltext plus Übersetzung ins Hochdeutsche und Englische. Beeindruckt zeigt sich auch der Schweizer Blueser Richard Koechli [48] und gibt eine Hör- und Kaufempfehlung: »Mandrin als Geschichtensänger. Kein Sportsänger also; genau, was mich beeindruckt. Ein Barde mit tiefer, berührend schmutziger Stimme. Grosse Lieder über kleine Leute. Hank Williams hätte seine Freude an dieser Band; oder Tom Waits, oder Dylan, oder wie sie alle heissen.«

Artist Video Gschechtesänger Mandrin: s'chond scho guet. (Buch/CD), 2018, ISBN 978-3-9524966-0-2, 105 S (www.mandrin.ch)




Vor drei Jahren fand zum ersten Mal das Münchner Festival LAUTYodeln statt, eine gesangliche Leistungsschau mit Konzerten, Workshops, Lesungen und Ausstellungen. Und weil es für alle Beteiligten, auf der Bühne wie im Publikum, gleichermaßen spannend wie ergötzlich war, konnte diesen Sommer nur Teil 2 folgen. Auch diesmal wurde erfolgreich widerlegt, dass das Jodeln ein ausschließlich alpines Phänomen ist. In der Allerheiligen-Hofkirche und im Volkstheater machten Künstler von Austria bis Arizona in unterschiedlichster Art und Weise die ganze Vielfalt dieser Gesangstechnik erfahrbar: Während zum Beispiel die junge österreichische Gruppe Alma ihr Jodeln als Alpen-Esperanto versteht, expandieren Evelyn Fink-Mennel und Nataša Mirković bis nach Bosnien-Herzegowina. Ruben & Matt & the Truffle Valley Boys, die aus Italien angereist sind, stimmen die Bluegrass-Songs der 1940/50er-Jahre an – heulende Jodler inbegriffen –, alldieweil der American Songster Dom Flemons die Field Holler der afroamerikanischen Cowboys auslotet. Erika Stucky stützt sich auf die Beats von FM Einheit (Einstürzende Neubauten), der auf gigantischen Stahlfedern trommelt, und Christian Zehnder peppt das Jodeln mit mongolischen Obertongesängen auf (oder umgekehrt), begleitet vom steirischen Drehleier-Spieler Matthias Loibner.

Mit: Maria Hafner-Michael Watzinger-Florian Burgmayr (D) / Ruben & Matt And The Truffle Valley Boys (I) / Schwarzbären Schuppel (CH) / Christian Zehnder & Matthias Loibner (CH/A) / Alma (A) / Dom Flemons (USA) / Erika Stucky & FM Einheit (CH/D) / Alpen Balkan Credos (BH/A)

LAUTyodeln Vol. 2: Fern - Nah - Weit. Trikont, 2019 (www.lautyodeln.de)

Nach einer Weile begegneten wir ein paar Schafen, die im Sprühen eines klaren Bachs weideten, der von einer dreißig Meter hohen Felswand herabstürzte, und mit einemmal ertönte von einer nahen, aber unsichtbaren Stelle her ein wohlklingendes 'Huliholdrioh!' und wir wußten, daß wir zum erstenmal das berühmte Jodeln der Älpler auf freier Wildbahn hörten. Und außerdem stellten wir fest, daß es sich dabei um dieses eigenartige Ineinander von Bariton und Falsett handelt, das wir zu Hause 'Tiroler Trällern' nennen. Das Jodeln erklang in einem fort und war sehr hübsch und erfrischend anzuhören. Dann erschien der Jodler - ein Hütejunge von sechzehn Jahren - und in unserer Freude und Dankbarkeit gaben wir ihm einen Franken und baten ihn, noch ein bißchen zu jodeln ...



C. Wagner, Jodelmania. Kunstmann, 2019, ISBN 978-3-95614-326-7, 320 S, €22,00

Aber auch dem wohl meinenden Schriftsteller wird bald des Guten zuviel ...

Nach etwa einer Viertelstunde begegneten wir einem anderen Hütejungen, der jodelte, und gaben ihm einen halben Franken ... Von nun an stießen wir alle zehn Minuten auf einen Jodler; wir gaben dem ersten acht Cents, dem zweiten sechs Cent, dem dritten vier Cents, dem vierten einen Penny, zahlten Nummer fünf, sechs und sieben nichts und brachten den Rest des Tages alle übrigen Jodler mit je einem Franken dazu, daß sie von ihrem Jodeln abließen. Es geht ein bißchen zu weit mit dieser Jodelei in den Alpen.

Die alpine Gesangstechnik hat örtlich und zeitlich viele Namen erhalten: Jodeln, Dudeln, Juuz, Juchzer, Kuhreihen, Tylorean Warblers, Yodeling, ... Das unartikulierte Singen aus der Gurgel bzw. der Registerwechsel von der Brust- in die Kopfstimme tönt lauter und durchdringender und trägt weiter als ein normaler Ruf, weshalb es ursprünglich zur Kommunikation über größere Entfernungen entwickelt wurde.

(Gejodelt wurde und wird natürlich nicht nur in den Alpen, sondern auch in Mittelgebirgen wie dem Harz oder bei den Baka-Pygmäen im afrikanischen Regenwald, was sich nebenbei bemerkt im Tarzan-Schrei manifestiert hat.)

Aus dem Signalruf wurde mit der Zeit ein komplexer mehrstimmiger Gesang, der auch zur Unterhaltung bei Festen und in Wirtshäusern vorgetragen wurde. Mit Beginn des 19. Jahrhunderts machten tourende Ensembles (ähnlich wie die Wandermusikanten aus Salzgitter und dem Eichsfeld[29] die Chance ergreifend, dem harten Leben in den Bergen zu entkommen) das Jodeln in ganz Europa bekannt.

Es war bald gar keine notwendige Bedingung mehr, aus den Bergen zu stammen. Die Alpenmusik wurde zu einer allgemeinen musikalischen Mode und einem überregionalen Stil, so dass es hieß, es gäbe mehr Tiroler Sing- und Spielgesellschaften als Tiroler in Tirol.

Im Jahr 1839 erreichte die berühmteste Alpensängergruppe, die Geschwister Rainer aus Fügen im Tiroler Zillertal, auch die Neue Welt. Insbesondere der obere Mittlere Westen wurde bevorzugtes Siedlungsgebiet alpiner Auswanderer, Spitzname: Swissconsin! Amerikanische Gesangsinterpreten in den Vaudeville-Shows übernahmen den Jodelgesang zur Bereicherung ihres Repertoires und mit der fortschreitenden Anpassung der alpenländischen Einwanderer an den American Way of Life fand auch eine allmähliche Amerikanisierung des Jodelns statt.

1927 nahm ein gewisser Jimmie Rodgers das Gutenachtlied "Sleep, Baby, Sleep" auf, das einen langen Jodel enthielt.

Es war der Startschuss für den kometenhaften Aufstieg von Jimmie Rodgers, der in den nächsten sechs Jahren (bis zu seinem frühen Tod am 26. Mai 1933) zum ersten Superstar des Genres aufstieg. "The Singing Brakeman" - wie er genannt wurde, weil er als Bremser bei der Eisenbahn gearbeitet hatte - bescherte dem Jodeln einen ungeahnten Boom und machte es zum festen Bestandteil der Hillbilly-Musik und weit darüber hinaus. Bald gab es kaum mehr einen Countrysänger, der auf den sich überschlagenden Gesang verzichten wollte, wobei bald auch im Blues und der populären Unterhaltung gejodelt wurde.

Jimmie Rodgers

Manche nutzten das Jodeln in kreativer Weise, fügten Triller und Zungenschnalzer hinzu oder ließen es wie einen traurigen Klageruf hallen. Für jede Gemütslage hielt der alpenländische Gesang eine geeignete Klangfarbe bereit. In traurigen Balladen konnte er sich wie ein langer Seufzer anhören, in "Railway"- und "Hobo"-Songs dagegen wie das einsame Signalhorn eines Zugs. In anderen Liedern kam der Jodelgesang dem Heulen eines Kojoten in der Prärie nahe, während es in ausgelassenen Nummern eine übergeschnappte Exzentrik entfaltete. Man konnte in "Close Harmony" jodeln wie die Callahan Brothers oder die Delmore Brothers, im Western-Swing-Stil wie Bob Wills & His Texas Playboys oder in Rockin'-Boogie-Manier. Und manche meinten im sanften Auf und Ab des Jodelrufs sogar die wellenhaften Bewegungen eines Lassos zu erkennen.

Der Jodel-Virus infizierte von der frühen Countrymusik ausgehend Blues, Ragtime, Jazz, Cajun und allen erdenklichen ethnischen Stilarten (bereits 1923 hatte Bessie Smith den "Yodeling Blues" gesungen). Für geraume Zeit regierte er in allen Musikrichtungen.

In den Vereinigten Staaten ist die Zeit des Jodelns jedoch aus und vorbei, in seiner Ursprungsregion aber erlebt der Alpengesang eine Renaissance.

Der "Jodelkönig" [Franzl Lang] avancierte mit der "Jodelkönigin" Maria Hellwig und Slavko Avseniks Oberkrainer-Sound in den 1960er Jahren zu Stars dieser neuen medialen Unterhaltungsformen. Sie machten die volkstümliche Musik - ein wenig modernisiert, ziemlich geschichtsvergessen und durchgehend seicht - zu einem Massenphänomen, das riesige Plattenumsätze einfuhr, hohe Einschaltquoten erzielte und die größten Hallen füllte.

Aber auch viele Laien und die Gruppen der sogenannten Neuen Volksmusik machen seit den 1990er Jahren der volkstümlichen Unterhaltung das Jodelmonopol streitig. Ensembles wie der Bairisch-Diatonische Jodelwahnsinn[12] (Monika Drasch)[57] in Süddeutschland, Broadlahn[34] und Hubert von Goiserns Alpinkatzen[65] in Österreich und Christine Lauterburg[60] in der Schweiz befreiten den alpinen Gesang aus der Zwangsjacke rein kommerzieller Interessen, indem sie ihm seine ursprüngliche Kraft zurückgaben und ihn so wieder ans Original rückten.

In der westlichen Hemisphäre hatte das Aufkommen der "Weltmusik" in den 1980er Jahren neue Horizonte aufgerissen. Hybride Stilformen aus Afrika, dem Balkan und dem arabischen Raum sowie anderen Teilen der Welt drängten auf den internationalen Plattenmarkt und lieferten Modelle, wie mit traditioneller Musik in ebenso kühner wie kreativer Manier umgegangen werden konnte. Inspiriert durch diese Impulse begannen nun auch Musiker aus den Alpen, traditionelle Musik auf fantasievolle Weise neu zu erkunden. ... Am kommerziell erfolgreichsten war Hubert von Goisern aus Österreich, der zuerst mit den "Alpinkatzen", später unter eigenem Namen das Jodeln in Kombination mit Rocksounds aus den Klauen von Schunkelzwang und Alpenkitsch-Idyllen befreite und ihm ein zeitgemäßes Image gab.

Gerade in der Schweiz wurden noch extremer die musikalischen Grenzen überschritten. So zum Beispiel bei der experimentellen Vokalkünstlerin Erika Stucky, die zwischen verschiedenen Musikstilen hin und her pendelte, sie zerlegte, durcheinanderwirbelte und auf verblüffende Weise wieder zusammensetzte, oder Christian Zehnder, der das alpine Jodeln in den Kontext von Oberton- und Kehlkopfgesängen stellt: »Mein Jodel hat nicht direkt mit der Schweiz zu tun. Es ist eigentlich eine Wiederbegegnung eines Schweizers, der seine Wurzeln verloren hat.«

Bairisch Diatonischer Jodelwahnsinn

Über die Ursachen für das Revival kann man spekulieren: Vielleicht sind es die zunehmenden Bedrohungen, Irrungen und Verwerfungen einer entsicherten globalisierten Moderne, die das "Eigene" wieder stärker ins Zentrum regionaler und nationaler Identität rücken lässt. Zudem können auch therapeutische und soziale Gründe eine Rolle spielen: Singen baut Stress ab und gibt Kraft für den Alltag. Da kann das Jodeln zu einer Energiequelle in einer von Hektik und Eile geplagten Gegenwart werden. Wenn man dann noch in Gruppen jodelt, wie das in Jodelklassen normalerweise der Fall ist, wird daraus ein Gemeinschaftserlebnis, das als Balsam gegen zunehmende Individualisierung und Vereinsamung wirken kann. Das Jodeln erscheint dabei als ideales Medium, ist doch der textlose Gesang wie einst in Amerika in der Lage, Menschen verschiedener Herkunft und unterschiedlicher Sprachen zusammenzubringen. Jodeln hat das Potenzial, zum Esperanto multikultureller Gesellschaften zu werden.

Das ist das Fazit von Christoph Wagner, Autor einer Kulturgeschichte des Akkordeons[21] und Sammler von Bildpostkarten.[31] Sein Jodelmania, welches im unmittelbaren Kontext des Münchner LAUTyodeln-Festivals entstanden ist, folgt den verschlungenen Pfaden, die das Jodeln in den letzten zweihundert Jahren genommen hat, und spürt insbesondere den alpinen Folkloregruppen auf ihren Tourneen durch Nordamerika nach.

Die Spurensuche anhand von vielfältigem Archivmaterial wird ergänzt durch ein halbes Dutzend Interviews: Carolyn DeZurik (1918-2009) war in den USA als eine Hälfte der DeZurik Sisters seit den 1940er-Jahren durch ihr Trick-Jodeln populär; der Münchner Franzl Lang (1930-2015) revolutionierte und kommerzialisierte in der Nachkriegszeit durch schnellere Tempi und mehr Verzierungen das traditionelle Jodeln; Su Hart und Martin Cradick (alias Baka Beyond) verbanden keltischen Folkrock mit dem Trillern im afrikanischen Dschungel (wenn die Männer bei der Jagd erfolglos sind, singen die Frauen, um Tiere anzulocken). Saami-Sänger Ánde Somby meditiert über die Gemeinsamkeiten von Jodeln und Joiken (beide praktizieren eine Art Zwiegespräch mit der Landschaft).

Wenn ich ein kurzes Fazit ziehen darf, dann lautet es: Man muss nicht unbedingt ein Jodel-Liebhaber sei, um Christoph Wagners Bericht faszinierend und aufschlussreich zu finden.



Memory Lane

LAUTyodeln 2019: Fern - Nah - Weit

Alma

Alpen-Esperanto ...

Dom Flemons
Nataša Mirković (Alpen Balkan Credos)
Erika Stucky

Field Holler & experimentelles Jodeln

Matthias Loibner & Christian Zehnder
Ruben Matt Truffle Boys

Obertongesänge & heulende Jodler



Jodeln tut auch der österreichische Schlagersänger Andreas Gabalier. Anfang diesen Jahres schlug anlässlich der Verleihung des Karl-Valentin-Ordens (der vermutlich jetzt im Grabe rotiert) nicht nur Gabaliers Heimatkitsch, sondern auch dessen vermeintlich rechtspopulistisches Gesellschafts- und Menschenbild hohe Wellen. Ist es eine böse Unterstellung und linke Verschwörung, wenn man in Gabaliers Pose auf seinem Album "Volks-Rock'n'Roller" ein Hakenkreuz erkennen will? Das fragt sich auch der langjährige Tourneeveranstalter Berthold Seliger:

Ist der als "Volks-Rock'n'Roll" bezeichnete Sound eines Andreas Gabalier tatsächlich so harmlos, wie er und die öffentlich-rechtlichen Medien immer tun, die ihm zur massenhaften Verbreitung seiner reaktionären Performance verhelfen? Oder spielen Gabalier, Frei.Wild, Böhse Onkelz und wie sie alle heißen nicht vielmehr den Soundtrack zu einer neuen Hegemonie reaktionärer Ideologie...?

Christian Zehnder

Artist Video Christian Zehnder
@ FROG


www.zehndermusic.ch

Dies ist nur einer von vielen Gedanken, die bei seiner Beschäftigung mit einem viel gewichtigerem Anliegen unversehens auftauchen. Seligers Problem heißt eigentlich: Das Imperiengeschäft! Das was? Nun, da stellen wir uns mal ganz dumm und lassen uns aufklären...

Man macht einen Laden nicht mehr auf, um einen Laden zu besitzen und ihn erfolgreich zu führen. Man gründet keine Firma mehr, um ein Produkt zu entwickeln und erfolgreich zu verkaufen. Nein, man macht heuzutage einen Laden auf, um einen zweiten aufzumachen, einen dritten, solange, bis man den örtlichen und den regionalen Markt beherrscht, dann den nationalen und schließlich den Weltmarkt. Es geht darum, ein Imperium zu errichten, ganz egal mit welchem Produkt ...

Trotz all dem großen Jammern und Klagen in der Musikbranche gehören Musik, Entertainment und Freizeit allgemein nach wie vor zu den boomenden Branchen. Die Handelnden sind längst keine Monokulturen mehr, sondern diversifizierte Entertainment-Konzerne, die sich als Tickethändler, Konzert- und Festivalveranstalter, Immobilienvermarkter und Investmentfonds betätigen. Die Anzahl der Spieler ist dabei äußerst überschaubar; es handelt sich nur um einige wenige Großkonzerne. Die Parole ist: Es regiert nicht die Kunst, sondern das Kapital! Regieren tut immer nur eine Minderheit, infolgedessen konzentriert sich auch das Kapital auf eine eher kleine Gruppe.

Während die oberen fünf Prozent der Performer 85 Prozent der weltweiten Konzerteinnahmen gerieren, bleiben für die unteren 95 Prozent der Musiker*innen gerade einmal 15 Prozent aller Konzerteinnahmen übrig. Und letztlich kümmern sich die weltweiten Konzert-Konzerne mit ihren Imperiengeschäften fast ausschließlich um jene fünf Prozent der Musiker*innen und Bands, die das große Geld machen, die also 85 Prozent aller Einnahmen erwirtschaften. Dies bedeutet im Umkehrschluß nicht nur, daß [die Konzerne der Liveindustrie] 95 Prozent aller Musiker*innen und Bands komplett ignorieren, weil mit ihnen nicht genug Geld zu machen ist, sondern es bedeutet auch, daß sich derartige Konzerne nicht mit dem mühsamen "Geschäft" abgeben, Künstler aufzubauen, daß sie schlicht kein Interesse daran haben, neue Bands zu entdecken und deren Karrieren langfristig zu betreuen. ... Musik ist ihnen im Grunde völlig egal. Sie ist für sie, was für Walt White in Breaking Bad die Drogen sind, lediglich Mitel zum Zweck, und dieser Zweck heißt: Profit.

Hört man einmal einem Vertreter der Musikbranche zu, so ist man verwundert, dass es an keiner Stelle um Musik geht, sondern ausschließlich um den Markt, um Rekorde und Wachstum, um Prozeßmanagement, Headcounts und Assets...

Ravi Shankar

An dieser Stelle sei ein kleiner Exkurs erlaubt: Während das mythenhaft verklärte Woodstock Festival 1969[40] bereits eine kommerzielle Großunternehmung war, die dafür sorgte, daß die Kulturindustrie gewaltige Profite machen konnte, war das Monterey Pop Festival 1967 das Ursprungsereignis der Hippie-Kultur:

Besonderheiten des Monterey Pop-Festivals: Die Risikobereitschaft, jenseits aller kommerziellen Erwartungen und Notwendigkeiten Musiker und Babds aus rein musikalischen Gründen zum Festival einzuladen. Und die kulturelle Vielfalt, die den Organisatoren des Festivals kein Lippenbekenntnis, sondern ein Herzensanliegen war. Sie wollten die ganze Bandbreite der Popkultur ihrer Zeit abbilden, und dazu gehörte auch die Musik, die Rock und Pop beeinflußt hatte, vor allem der Blues, aber auch Soul und Funk, Jazz und eben neuerdings auch die indische klassische Musik.
Man stelle sich vor, daß heute bei Rock am Ring, bei Lollapalooza oder auf dem Hurricane-Festival auf der Hauptbühne indische Musiker drei Stunden lang Ragas spielen würden, und man kann ermessen, wie weit die heutige Festival-Event-Kultur vom Ursprung der Popkultur der sechziger Jahre entfernt ist. ...
Ravi Shankar bat das Publikum, während seines Konzerts nicht zu rauchen und keine Fotos zu machen, es handele sich schließlich um religiöse Musik, und die Fotografen legten sofort ihre Kameras weg, und niemand rauchte während der drei Stunden. Kann man sich solch eine Mischung aus Disziplin und Respekt heute noch vorstellen? Wie lange können die Festivalbesucher heute auskommen, ohne auf ihre Smartphones zu sehen und Selfies zu schießen?

Dabei gibt sie heute durchaus immer noch: die vielfältige, interessante Festivallandschaft jenseits der Großevents der multinationalen Imperien.

Hierzu gehört auch das Rudolstadt-Festival,[70] das längst über seine Rolle als reines Weltmusikfestival hinausgewachsen ist und eine Bandbreite von "local music from out there" anbietet, die man sonst in Deutschland vergebens sucht. Unbekannte und neue Bands aus allen Kontinenten, aber auch Stars verschiedenster Genres spielen vor einem Publikum mit auffällig vielen jungen Menschen, die sich mit den ergrauten Veteranen mischen.



Berthold Seliger, Vom Imperiengeschäft: Konzerte - Festivals - Streaming - Soziales. Wie Großkonzerne die kulturelle Vielfalt zerstören. Edition Tiamat, 2019, ISBN 978-3-89320- 241-6, 343 S, €20,-

Berthold Seligers Traktat Vom Imperiengeschäft ist gleichermaßen eine Kritik einer übersteigerten Wirtschafts- und Gesellschaftsideologie als auch eine Kritik der gegenwärtigen Popkultur. Allzeit bestens informiert, gelegentlich ironisch, hämisch und zynisch, bekommt nicht nur die kriminelle Energie des neoliberalen Kapitalismus in einer aus den Fugen geratenen Welt ihr Fett ab, sondern auch die Dummheit und Naivität der Kulturkonsumenten, die sich wie Schafen in die Arenen treiben lassen. Immerhin sind es Schafe mit teils erheblichen finanziellen Mitteln.

Seliger, der seit dreissig Jahren eine Konzertagentur betreibt (Lou Reed, Patti Smith, The Walkabouts, Master Drummers of Burundi, Daniel Kahn, James Yorkston, Bratsch, u.v.m.), ist von Weltverbesserungsleidenschaft (Theodor Fontane) getrieben:

Wir dürfen es nicht zulassen, daß geschlossene, privatwirtschaftlich organisierte Kolosse die Kultur an sich reißen, um damit ihre Macht auszudehnen und ihre Profite zu steigern. Kultur und Künste, also Musik, Literatur, Film und bildende Kunst und alle weiteren Ausformungen des Kreativen, gehören zu unseren Grundbedürfnissen als Menschen. Und so wie alle Menschen ein Recht auf trinkbares Wasser und saubere Luft haben, so müssen sie auch ein Recht haben auf eine am Menschen und nicht am Profit orientierte Kultur.

Es geht um ... die Liebe zur Musik und den unbedingten Glauben an die Qualität der künstlerischen Darbietung. Zugegeben, im kapitalistischen Realismus unserer Tage hört sich so etwas ähnlich romantisch verklärt an wie die Idee des legendären argentinischen Fußballtrainers César Luis Menotti, wonach der Fußball ein Fest sein solle, bei dem der Weg das Ziel sei und bei dem die Fantasie gefördert werde. Für Menotti ist die Schönheit des Spiels das Kennzeichen eines "linken Fußballs" - im Gegensatz zum "rechten Fußball" der bloßen Resultate, bei dem der Zweck alle Mittel heiligt und das Motto, das Leben sei ein Kampf, regiert, und man müsse schließlich Opfer bringen... Menotti verachtet die Söldner des Punktgewinns und die wirtschaftlichen Auswüchse dieses rein marktwirtschaftlich betriebenen Fußballs. Und auf ähnliche Weise müssen wir gegen ein auf bloße Wirtschaftlichkeit setzendes Konzertgeschäft antreten und dem Imperiengeschäft der Konzertgiganten unser Modell einer Gemeinschaft von Musiker*innen, Bands, örtlichen und Tournee-Veranstaltern sowie Agenten entgegensetzen.

Seliger denkt auch über Lösungen nach - die von der Einführung von Mindestgagen (es ist durchaus besonders schofel, daß ausgerechnet bei der Womex,[70] der Weltmusikmesse, die Künstler*innen, die meistens aus sehr armen Ländern kommen, weder Honorare noch zum Beispiel Reise- oder Hotelkosten erhalten), Frauenquoten und dem Aufbau und Schutz von unabhängigen Kulturzentren bis zu strengerer Anwendung des Kartellrechts und Zerschlagung großer Konzerne reichen. Ich will an dieser Stelle nicht ins Detail gehen und diese empfehlenswerte Lektüre überflüssig machen. Man muss es nicht lesen, aber wer es nicht tut, soll später nicht sagen, er hätte von nichts gewusst.

Der erste Schritt wäre schon mal, sich all dieser Entwicklungen bewusst zu werden. Im zweiten Schritt könnte man Musik jenseits des Formatradios hören und kulturelle Veranstaltungen jenseits des Mainstreams besuchen. Dazu gehören beispielsweise auch Seligers Lecture-Shows "Vom Imperiengeschäft - Wie Grosskonzerne die kulturelle Vielfalt zerstören"; Termine siehe www.bseliger.de!




Rachelle Garniez

Erik Della Penna



Theodor Trampler & Ulrich Balß, NEW YORK - Past & Present, Jaro Medien, ISBN 978-3-9813509-3-7, 2018

Ein Abend in New York mit Rachelle Garniez & Erik Della Penna & Ulrich Balß


Ein Abend in New York ist die Multi-Media-Show zum Buch "New York - Past & Present".[67] Ulrich Balß, Chef der Jaro Medien GmbH und Autor von "Lisboa - Past & Present",[60] präsentiert Briefe und Fotos seines Großvaters Theodor Trampler. Der gelernte Leipziger Buchbinder begab sich 1928 nach New York und illustrierte bildgewaltig seinen fünfzehn-monatigen Aufenthalt im Big Apple. Neunzig Jahre später suchte Ulrich Balß die Originalschauplätze auf und knipste digital die Überbleibsel, die Trampler einst noch auf Zelluloid gebannt hat.

Die New Yorker Musiker Rachelle Garniez und Erik della Penna hatten ein musikalisches Programm erarbeitet, das sich an den Fotos von Trampler und Balß orientiert. Die Akkordeonistin und Pianistin Rachelle Garniez ist mehrmals mit Solo-Programmen und mit den American Songbirds durch Europa getourt. Von 2013 bis 2015 musizierte sie mit der Blues-Weltmusik-Band Hazmat Modine, deren langjähriger Gitarrist Erik Della Penna ist. Dieser ging überdies mit Natalie Merchant und Joan Baez auf Tour.

Ein Abend in New York fand im Herbst 2019 allerorten eine wohlwollende Aufnahme. Die Tour wird im Februar 2020 fortgesetzt, darüber hinaus soll es eine CD mit dem Musikprogramm geben.



Photo Credits: Book Covers (from website/author/publishers); LAUTyodeln 2019 (© Stefanie Giesder).


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