FolkWorld Ausgabe 34 11/2007; Kolumne von Walkin' T:-)M


A Decade of Folk A Decade of Folk

A Decade of Folk

Zwischen Harz und Heide



Und was hat sich zwischen Harz und Heide im vergangenen Jahrzehnt getan? Die legendären Folk-Meetings des Braunschweiger Clubs Folk 69 sind längst zum Mythos geworden. Aber 1997 wurde zum ersten Mal das Klesmerfestival in Salzgitter-Bad veranstaltet. Vor drei Jahren kam Folk on the Water in Salzgitter-Gebhardshagen dazu. Und in diesem Juni gab es auch in Braunschweig endlich nicht mehr länger brave, sondern Wilde Töne zu entdecken.

Plakat Wilde Töne Festival 2007
www.wilde-toene.de

Eine drückende Hitze lag über der Stadt. Während das Thermometer Grad für Grad anstieg, trat den Braunschweiger Folk-Freunden der Schweiß auf die Stirn, die sich die Frage stellten, ob sich die monatelange Anstrengung auszahlen und das 1. Wilde Töne Festival erfolgreich über die Bühne(n) gehen würde.

In den 1970er-Jahren fanden in Braunschweig die legendären Folkmeetings statt. Diese Veranstaltungen des Folkclubs FOLK 69 haben die lokale Szene bis heute geprägt. Fast alle Musikveteranen, die noch in Braunschweig mitmischen, haben hier ihre Wurzeln. Aus den braven Folkies von einst sind die Wilden Töne geworden. Unter diesem Titel veranstaltete die Initiative Folk e.V. vom 8. bis 10. Juni 2007 ihr erstes Folk- und Weltmusik-Festival in der Okerstadt.

Zur Eröffnung des Festivals am Freitagabend wurde eingeladen, durch das östliche Ringgebiet zu schlendern und an fünf verschiedenen Veranstaltungsorten ganz unterschiedliche Konzerte zu erleben. Der Südwind trug Klänge von Afrika bis nach Australien. Zwischendrin befand sich das deutsch-indische Crossover-Trio Indigo,
Bernie Conrads, Wilde Toene 2007
Bernie Conrads: www.maeker-tours.de
das mit ihrer Mischung aus klassisch-indischer Musik mit Sitar und Tablas und jazzig-folkigem Cello unlängst bis in die Endausscheidung des Creole-Weltmusik-Preises gelangt war.

Bei Playing Irish traten die lokalen Irish Folk-Gruppen auf, bei Cros'sing' Borders hieß es, über den Tellerrand hinwegzusingen. Hauptsache Folk und gut bei Stimme. Die Schluchten des Balkans befanden sich im Biergarten des Stadtparks. Die Dresdner Banda Comunale [siehe CD-Rezension in dieser FW-Ausgabe] und das rumänische Vasile Gutman Ensemble verwandelten mit viel Brass die laue Nacht in einen Hexenkessel. Mal traditionell Balkan, mal Funk. Die zahlreich erschienenen Zuschauer und Tänzer konnten sich austoben.

Ganz so viel Publikum hatte nicht zu Bernie Conrads [-> FW#31] in die Paulikirche gefunden. Bernie war der Konvoiführer von Bernie's Autobahnband gewesen und nicht nur unter Folkies eine bekannte und geschätzte Größe.
Asphaltkonzert, Wilde Toene 2007
www.dunaengus.de
Die Autobahnband löste sich 1989 auf, Bernie sang nicht mehr in der Öffentlichkeit, schrieb aber weiterhin Lieder (z.B. für Stoppok). Das Konzert begann denn auch mit einem seiner alten Hits. Zumeist spielte er jedoch, begleitet von dem Dresdner Quartett Pankraz, Stücke von seiner zwei Jahre alten CD "Drei Flaschen Mondschein". Die Lieder sind wie der Mann ehrlich und ungekünstelt. Einziger Wehmutstropfen war der Hall in der Kirche, so dass man den Texten nicht immer ganz folgen konnte.

Am Samstagmorgen trafen sich Musiker aller Stilrichtungen in der Fußgängerzone zum Asphaltkonzert. Vasile Gutman und das türkische Rast Orchester schwärmten aus und machten die Innenstadt unsicher. Nicht unbedingt zur Freude aller Cafehaus-Besitzer, doch zum Wohlgefallen der meisten Passanten. Die Braunschweiger Irish Folk Session bot Mitglieder aus lokalen Bands wie Dun Aengus [-> FW#30, FW#32] und Whirli Gig [-> FW #20, FW #33] auf. Dazu gesellten sich Ex-Dereelium-Fiddler Mic Möllers [-> FW#12, FW#17] und andere auswärtige Gäste, die es eigens wegen des Festivals nach Braunschweig verschlagen hatte.

Der Nachmittag bot den Festivalbesuchern im Kulturzentrum Brunsviga die Gelegenheit, selbst aktiv zu werden.
A Glezele Vayn, Wilde Toene 2007
www.glezele.de
Sie konnten Irish Fiddle nach Gehör lernen, sich Tipps über Gesang und Djembe-Drumming geben oder sich über griechischen Rebetiko informieren lassen. Die Workshops waren nur schwach besucht, dagegen drängten sich die Tanz-Enthusiasten zum Bal Folk. Das
Orchester der Brunsviga, etwa 40 Streicher und Bläser stark, spielte mit Musik zwischen Bretagne und Balkan auf. Die Vortänzer schafften es spielerisch, den willigen Tänzern selbst einen 11/8-Rhythmus beizubringen.

Für die Kleinen lud ein temperamentvolles Kinderprogramm zum Mitmachen ein. Manfred Unmada Kindel [-> FW#32] und seine Pi-Pa-Po-Piratenband erfreuten die Folkies im zarten Alter von vier bis zehn. Abends wechselte Unmada dann zur Band Mabon, um abwechselnd mit Banda Comunale und A Glezele Vayn drinnen im Saal und draußen im Hof zu spielen. Das Motto hieß Wanderratten und sollte einen Bogen von den jiddischen Klesmorim bis zur Straßenmusik der jüngsten Vergangenheit (und Gegenwart) spannen.

Harriet Earis, Klesmerfestival Salzgitter, Juni 2007
Klesmerfestival, Salzgitter-Bad, Juni 2007: Die Salzgitterschen Wandermusikanten, die sich selbst Klesmer nannten, zogen aus sozialer Not während des 19. Jhds.in die Welt hinaus [-> FW#29]. Zum 10. Mal erinnerte das Festival der Weltmusik in Salzgitter-Bad an die musikalische Tradition der Stadt. Heute muss man die Musiker importieren. Die britische Harfenistin Harriet Earis hatte prominente Unterstützung mitgebracht: Sean Cannon von den Dubliners [-> FW#23]. Dieser gab sein öffentliches Debüt auf dem Banjo. Kein Problem, dass er beim Reel-Set den Übergang verpatzte, mit ein paar Takten "Lustig ist das Zigeunerleben" hatte er sich schon vorher lieb Kind gemacht. Anschließend gab es die irisch-deutsche Band An Rinn [-> FW#19, FW#27, FW#32] und viel Regen. Dass dann auch noch kurzzeitig Licht und Ton ausfiel, erwies sich aber als Glücksfall, denn die Leute kamen nahe an die Bühne heran, um ihren Spaß zu haben.

Als Ende der 1970er der Höhepunkt des Folkrevivals überschritten war, wurde in Braunschweig ein neues Kapitel aufgeschlagen. Aus einem Treffen der Kulturgruppen gegen Atomkraft entstand die Rotzfreche Asphaltkultur, ein graswurzelähnlicher Zusammenschluss von Straßenmusikern. Die Mitstreiter von Mabon, die nur noch zu besonderen Anlässen auftreten, hatten sich vor dem Bauzaun von Gorleben kennengelernt. Ein Vierteljahrhundert später müssen sie feststellen, dass sich soviel nicht geändert hat. (Jetzt befindet sich das geplante Endlager Schacht Konrad ganz in der Nähe.) Und so erwies sich ihr Konzert fast als Retro-Veranstaltung mit einem Anflug von Nostalgie.

Das Wilde Töne Festival klang am Sonntagmittag im Stadtpark mit einem Brunch und Klezmermusik aus. Die vergangene Nacht lag noch schwer im Blut. A Glezele Vayn sah dementsprechend verkatert aus. Das erste Set war denn auch etwas besinnlicher, bevor es nach der Aufwärmphase feuriger weiterging und die ersten Gäste ihr Tanzbein schwangen. Mit Klarinette, Akkordeon, Perkussion und Kontrabass interpretierte die Hildesheimer Klezmerband humorvoll jiddische Klezmermusik bis Balkanfolk sowie Zwie- und Mehrfache aus dem Alpenraum. Ihr noch geringer Bekanntheitsgrad sprach dabei ihrem Talent mehr als Hohn.

Dann war Schluss. Das erlösende Gewitter war nicht gekommen, aber die Spannung bei den Organisatoren hatte sich sichtlich abgebaut. Glückliche Gesichter allenthalben, denn wer hätte gedacht, dass so eine Veranstaltung in Braunschweig überhaupt möglich wäre. Fortsetzung folgt.

Deitsch, Folk on the Water 2007 Deitsch, Folk on the Water 2007 Deitsch, Folk on the Water 2007
www.deitsch.de

Apropos Gewitter! Einen Monat später in Salzgitter hieß es dann aber tatsächlich Land unter. Pünktlich um 19 Uhr zu Beginn des Folk on the Water-Festivals brachen sintflutartige Regenfälle aus. Eine Windhose zog eine verheerende Schneise durch die Stadt. Am nächsten Morgen konnte man die Gehsteige von Sträuchern und Ästen säubern und die toten Vögel vom Balkon klauben.

Das blaue Einhorn, Juli 2007
Ferieneröffnungsfest St. Pauli, Braunschweig, Juli 2007: Ein Wochenende lang Roma-Musik und Zigeuner-Jazz mit Urs Karpatz [-> FW#32], Häns'che Weiß und Das Blaue Einhorn [-> FW#7, FW#11, FW#23, FW#24].

Manch Konzertbesucher traf deshalb beim 3. Salzgitteraner Folk-Festival im Waldschwimmbad Salzgitter-Gebhardshagen verspätet oder gar nicht ein. Schade eigentlich, denn damit wurde eine Gelegenheit verpasst, in Salzgitter einmal wieder Spitzenfolk zu hören. Es ist keine Übertreibung zu behaupten, dass sich Folk on the Water von Jahr zu Jahr gesteigert hat. Das Quartett Change Partners [-> FW #32] trat leider nur zu zweit auf, die andere Hälfte steckte irgendwo auf der Bundesstraße fest. Rene Sahin und Andy Bernig gelang es dennoch, mit populären Titeln von Crosby, Stills, Nash und Young den nötigen Druck zu erzeugen. Die Lokalmatadore Dun Aengus [-> FW#30, FW#32] hatten zuvor mit irischer Musik eine hohe Messlatte vorgelegt.

Hiss, August 2007
Maschseefest, Hannover, August 2007: Am Ufer hat der Celtic Tiger Pub die Temple-Bar errichtet. Auf der Bühne tobt die Irish Folk Session mit Mitgliedern der Hannoveraner Gruppen Ceolta und Dereelium [-> FW#12, FW#17 ]. Die Folk-Rocker Lack of Limits [-> FW#23, FW#29, FW#33] lassen es dann knallen, und ein paar Kilometer weiter heißt es Polka-Rock, -Gesang und -Tanz nach dem Motto: Schüttel den Müll aus deinem Hirn: Hiss [-> FW#18, FW#20, FW#25, FW#28, FW#29, FW#31, FW#32, FW#32, FW#33], einer von 10 Folkworld's Best Loved Artists aus deutsch-sprachigen Landen. Ein paar neue Stücke werden gespielt, es gibt also Hoffnung auf einen baldigen Tonträger.

Dun Aengus waren eingespielt. Am Mittag des gleichen Tages waren sie noch auf dem Internationalen Kulturfest vor der Kulturscheune in Salzgitter-Lebenstedt aufgetreten. Der Integrationsgipfel tagte und so wurde hastig eine multi-kulturelle Veranstaltung mit Musik, Tanz und kulinarischen Genüssen zur Förderung der Integration in Salzgitter zusammengeschustert. Zwischen griechischer Folklore und deutsch-indischem Ausdruckstanz repräsentierten Dun Aengus gleichsam die Irish Community Salzgitters. Aber es soll niemand sagen, unsere ausländischen Mitbürger seien nicht integriert. Zumindest vom Temperament her haben sich die Südländer bereits den Norddeutschen angeglichen. Da müssen erst die Deutschen (mit irischer Musik) kommen, um Stimmung zu machen.

Ein Dorf weiter spielten zeitgleich die Rattles. Besser gesagt, die Rattles-Cover-Band, denn von der Originalbesetzung ist niemand mehr dabei. Ex-Rattle Achim Reichel spielt neuerdings deutsche Volkslieder und Balladen.
Achim Reichel [-> FW#33] ist der Jäger des verlorenen Liedes. Zumindest im NDR-Fernsehen. Auf einer Reise durch den Harz trifft er Chöre, Liedermacher, Instrumentenbauer und Tanzgruppen. Er lässt es sich auch nicht nehmen, mit den Eingeborenen zu musizieren. Und Folk? Na ja ...
Aber verrockt, das eine Stück klingt nach Cajun, das andere riecht nach Balkan. Auch Gruppen wie
Schöneweile [-> FW#32, FW#33] und Bobo [-> FW#33] lassen das traditionelle Liedgut im Jazz- und Pop-Gewand erklingen. Spielt denn eigentlich niemand Volkslieder im Folk-Stil?

Doch! Deitsch [-> FW#31, FW#32] heißt die schwäbisch-pfälzisch-badische Kapelle, die die Fahne der Folkmusik noch hochhält.
Peter Kerlin, Oktober 2007
It's been a long, long way, it's been a long, long time, but I'm still travelling on ... Mit musikalischen Gästen wie Jens Kommnick [-> FW#32] und Paul Joses [-> FW#20, FW#22] beging der irisch-inspirierte Singer-Songwriter Peter Kerlin [-> FW#20, FW#21, FW#30, FW#31, FW#31] im Kulturkraftwerk Goslar sein 30jähriges Bühnenjubiläum.
An diesem Abend bei Folk on the Water in der Besetzung Gudrun Walther (Gesang, Geige, Akkordeon), Jürgen Treyz (Gitarre, Gesang) und Henrik Mumm (Bass). Der Regen setzte abermals ein und die Zuschauer rückten eng unter der Remise zusammen, so dass es kuschelig wurde. Die Dialektstücke wurden pflichtbewusst übersetzt, schließlich weiß nicht jeder Norddeutsche, dass ein Gsell ein Azubi ist. Gudrun erläuterte aber auch die hochdeutschen Texte ausführlich, zu fremd sind die Inhalte alter Balladen wie der "Rheinbraut" oder dem "Lindenbaum" dem modernen Menschen. Obwohl man vom Brombeerpflücken nur nicht mehr schwanger werden kann, weil niemand mehr zum Brombeerpflücken geht.

Wenn man gelegentlich meint, hoppla, das klingt jetzt aber irisch angehaucht, so täuscht man sich nicht. Gudrun und Jürgen sind Mitglieder der bekannten Irish-Folk-Formation Cara [-> FW#29, FW#33]. Aber das haben Volksmusikanten des 17. Jahrhunderts auch schon nicht anders gehalten. Nur haben die eben nicht Turlough O'Carolan gekannt [-> FW#20], sondern sind der italienischen oder einer sonstigen zeitgenössischen Mode hinterhergelaufen. Deitsch bringen jedenfalls erheblichen Schwung in die Deutschfolk-Szene. Epigonen - insbesondere auf diesem hohen musikalischen Niveau - sind noch keine in Sicht und bisher ist das prognostizierte Deutschfolk-Revival noch ein Sturm im Wasserglas.

Obwohl ... den hatten wir nun ja. Deitsch kann hinfort von sich behaupten, Salzgitter im Sturm genommen zu haben.

Die FolkWelt zwischen Harz & Heide #8 (FW#33)

Photo Credits: (1) Wilde Töne (Festivalplakat); (2) Bernie Conrads, (3) Asphaltkonzert, (4) A Glezele Vayn, (6)-(8) Deitsch, (9) Das Blaue Einhorn, (10) Hiss, (11) Peter Kerlin, Jens Kommnick, Paul Joses (by Walkin' T:-)M); (5) Harriet Earis & Sean Cannon (unknown).


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© The Mollis - Editors of FolkWorld; Published 11/2007

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