FolkWorld Ausgabe 32 12/2006; Live-Bericht von Karsten Rube


Die Digedags im Wilden Westen
Hiss, Berliner Kulturbrauerei, Okt. 2006

Polka ist Tanzmusik. Hiss ist eine Kapelle, die Polka für die Welt spielt, auf mexikanische Klänge und Zydeco-Adaptionen zurückgreift und dabei eine musikalische Melange anbietet, für die der Begriff Weltmusik wahrscheinlich erfunden wurde. Stefan Hiss und seine Männer machen abschreckend schöne Volksmusik für ein Publikum, das eine gewisse Reife benötigt, um die Ironie zu bemerken, die in den Auftritten steckt. Doch wenn man gerade dahinter steigt, wie sie das meinen, was sie da gerade von sich geben, brechen sie ihre ironischen Bemerkungen mit Ironie und lassen den Zuschauer verwirrt zurück. Das hat nun schon seit Jahren Methode und zwar erfolgreich. Allerdings gerade in dem Maße, in dem sie es zulassen, denn um für Hitparade und Musikantenstadl geeignet zu sein, besitzen sie zu viel Fantasie.

Hiss ist eine Life-Band, die ihr Publikum findet, selbst in Berlin. In der Hauptstadt war es ein überschaubares, doch treues Publikum, das sich Mitte Oktober 2006 im kleinen Maschinenhaus der Kulturbrauerei einfand, um zu tanzen, zu feiern, mitzugrölen und sich durch den Genus von Flaschenbier so schön wie möglich zurecht zu machen, wie es einige der betagteren Gäste mit sichtbarem Erfolg bewiesen. Schließlich ist es immer schwierig, im fortgeschritten alkoholisiertem Zustand zu singen und zu tanzen und dabei eine Bierflasche am Mund zu halten. Hiss, Rudolstadt 2004, photo by Walkin' Tom Stefan Hiss scheint solche Begleiterscheinungen zu kennen, wie auch aus seinen Texten und Kommentaren zu hören war, doch ein paar verwunderte Blicke hatte er schon übrig für diese kleine Gruppe Fünfzigjähriger, die in einer Bierlache herumpanschte und auf ihre Weise Wochenende feierte.

Absurder Humor, ein paar Unappetitlichkeiten, morbider Charme und die Schmierigkeit eines Tex-Mex-Musikers, das sind die Zutaten, mit denen Stefan Hiss seine Bühnenpräsentation zusammenstellte. Allerdings fand sich in allen Liedern Freude am Wortspiel, eine Umarmung aller schönen Dinge der Welt, die Rum und Liebesschmerz und die Wunden der zahllosen Kämpfe mit Nebenbuhlern an allen Enden der Welt einschloss. Mit großer Wonne erklärte Stefan Hiss, was die Lieder, die er singt, bedeuten könnten, um dann mit dem Lied selbst das Gegenteil zu beweisen. Er spielte auf seinem glänzenden weißen Akkordeon und trat, obwohl er der uneingeschränkte Mannschaftskapitän in der Kapelle ist, gern in den Hintergrund, wenn Michael Roth aus seinem selbstgenähten, einem Patronengurt nicht unähnlichen Mundharmonika-Aufbewahrungsschal ein Instrument nach dem anderen zog und in der Manier eines Bluesmusikers die Bühne füllte.

Auch musste Stefan Hiss öfter aus dem Weg, denn der ungezähmte Bassgitarrist Volker Schuh drängte immer wieder wie eine Lokomotive nach vorn. Für jemanden mit Spaß an abgründigem Humor, was die Mehrzahl der zum Ende des Abends noch zurechnungsfähigen Besucher ausmachte, war es eine Freude, Hiss und seine Kapelle auf der Bühne zu betrachten. Fünf rein optisch aus der Jugendflegelhaftigkeit entwachsene Männer mit Koteletten und Anzügen, die aus der Zeit des amerikanischen Bürgerkrieges zu stammen scheinen und mich an den DDR-Comic "Die Digedags im Wilden Westen" erinnern. Einordnen kann man die Kapelle zum Glück nirgendwo. Blues, Folk, Texmex und deutsches Liedgut haben bei ihnen irgendwann mal eine Orgie gefeiert und heraus kam ein einmaliger Bastard, absonderlich, exotisch und von liebenswerter Schmuddeligkeit.

Website: www.hiss.net

Diskographie:
Tut Buße (1998)
Tränen, Tabak und Tequila (2001)
König der Schmerzen (2002)
Polka für die Welt (2004)
Los Gigantes (2005)
10 Jahre Hiss - Live in der Scala (DVD, 2005)

Photo Credit: Hiss (by Walkin' Tom, Rudolstadt 2004).


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© The Mollis - Editors of FolkWorld; Published 12/2006

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