FolkWorld-Artikel von Walkin' T:-)M:

Die FolkWelt zwischen Harz und Heide:

Kles/zmer schpiln ein scheenes Schpil

Da ich mich nun für eine geraume Weile im geographischen Zentrum der Republik niedergelassen habe (so ungefähr jedenfalls wie Deutschland auf einer Achse Kuba-Libyen liegt), soll doch einmal ein Blick darauf erfolgen, was denn die Folkies zwischen Goslar und Lüneburg, Weser und Elbe alles so treiben. Aber treiben sie denn überhaupt irgendetwas?

Sommerzeit, Saure-Gurken-Zeit! Oft bleibt nur der verzweifelte Griff zur TV-Fernbedienung. Da könnte ich jetzt anfangen mit Down from the Mountain, der Konzerttournee der Musiker von O Brother Where Art Thou (-> FW#23, FW#25). Mitternacht im NDR, na immerhin. Doch Pustekuchen. Vom Berg wird vorerst nicht herabgestiegen, die Dokumentation in die ganz frühen Morgenstunden verschoben: Musik nur für Nachtportiers oder vom Arbeitsmarkt freigesetzte Bevölkerungsteile. Doch der Herrgott bestraft kleine Sünden bekanntlich sofort und grollt mit Donner und Blitz.

Immerhin läuft O Brother selbst zwei Wochen später im ZDF, bereits um 22 Uhr und pünktlich. Im Privatsender Onyx.tv wird In Extremo (-> FW#8, FW#25) breiter Raum gewährt und wir kommen in den Genuss einer Unplugged-Session. Vorbildlich auch der Bayrische Rundfunk: Grenzenlos - Mit Hubert von Goisern in Westafrika (-> FW#19, FW#23, FW#24) und die vierteilige Sendereihe Alpenrock, wo neben dem Goiserer auch Attwenger (-> FW#23), der Bairisch-diatonische Jodelwahnsinn (-> FW#12), Bavario (-> FW#20), die Biermösl Blosn (-> FW#11), Danzer (-> FW#20), Haindling (-> FW#23), Hundsbuam (Rezension in dieser Ausgabe), Ringsgwandl (-> FW#19), Söllner (-> FW#13), STS (-> FW#25), und Wecker (-> FW#18, FW#22, FW#25) zu Worte kommen. Doch ich schweife ab, falsche Region.

Klesmerplatz, Salzgitter-Bad Und was wird hier so diskutiert:

- Sigmar Gabriel, Ex-Ministerpräsident des Landes Niedersachsen und frischgebackener SPD-Beauftragter für Popkultur und Popdiskurs, bezeichnet die Auflösung von Modern Talking als überfällig und erregt die Gemüter. Dabei hat er doch wohl vollkommen recht! Nebenbei erfahren wir, dass CDU-Fraktionschef mit schottischen Vorfahren, Mr. David McAllister, eben nicht am liebsten Marschmusik in Schützenfestzelten oder das Lied der Niedersachsen als Endlos-Schleife höre, sondern Hiphop, House und Rap.

- Erst fordert Bundestagspräsident Wolfgang Thierse, dann die Bayrische Staatskanzlei - alle Jahre wieder (-> FW#13, FW#14) - eine Quotenregelung für deutschsprachige Musik in Funk und Fernsehen. Mir persönlich ist es ja nun völlig schnuppe, ob nun den ganzen Tag die Pop- und Schlageridiotie auf Englisch oder auf Deutsch gedudelt wird, genausowenig wie ich die Plattenindustrie bedauern kann, dass die Kids selbigen Flachsinn downloaden und brennen, anstatt ihn käuflich zu erwerben. Ein schlaues Buch verkündet derzeit, das die Musikwirtschaft das Internet nicht überleben wird. Aber vielleicht ist das ja eh das Beste, was der Musik passieren kann.

- Berühren und freuen tut uns hingegen der 2. Platz der belgischen Ethnoformation Urban Trad (-> FW#19) beim Grand Prix Eurovision in Riga. Und auch der 1. Platz, der Orientpop von Sertab Erener, ist ja letztendlich irgendwo in die Schublade Weltmusik einzuordnen. Aber was ist mit uns Deutschen los? Wann sagt endlich einmal einer laut, dass Herr Siegel ein Loser ist? Na wirklich: Wie oft hat er teilgenommen? Wieviele Siege errungen? Eben!

Salzgitter? Was? In der Zeitung lese ich: Amerika hat der Welt vier Dinge gegeben: Baseball, Coca Cola, Mickey Mouse und Elvis Presley. Und vier Dinge hat Salzgitter der Region gegeben: den Stahl, den See, das Schloss - und Martin Möbius. Letzterer ist der hiesige Elvis-Imitator. Damit wäre auch schon fast alles gesagt, dabei ginge es doch wirklich auch anders!

Klesmer sind christliche Wandermusikanten aus Salzgitter, Klezmer sind jüdische Wandermusiker aus Ost-Europa. Die These des Amtsleiters im Kulturamt, Dr. Jörg Leuschner, besagt, dass es sich lediglich um einen Transkriptionsfehler handlet. Aus dem Kyrillischen scharfen S wurde in Salzgitter Klesmer. In Salzgitter lässt sich die Tradition der umherziehenden Musiker bis zur Wende des 18./19. Jahrhunderts zurück verfolgen. Nachdem die Arbeitsmöglichkeiten in der Saline wefielen und die Gewerbefreiheit eingeführt wurde, mussten viele Menschen nach andreen Verdienstmöglichkeiten suchen. Missernten in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts erhöhte die Zahl noch einmal. Während es 1780 noch keine Berufsmusiker in Salzgitter gab, wurden um 1800 16 Kapellen, 1812 41 und 1848 schließlich etwa 80 Gruppen registriert. Die Klesmer zogen vor allem im Sommer umher um Geld für das Jahr zu verdienen. Es ist überliefert, das Salzgitteraner Klesmer während des amerikanischen Bürgerkriegs die Soldaten mit Musik unterhalten haben, und zwar beide Seiten. Amtsleiter Leuschner berichtet auch über fundierte Vermutungen, nach denen Musiker aus Salzgitter Klänge aus Südamerika nach beispielsweise New Orleans brachten und somit auch den Jazz beeinflussten. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts besserten sich die wirtschaftlichen Verhältnisse. Damit verlor das Musikantentum an Bedeutung und die Klesmer verschwanden. [SZW]

Diese Tradition wäre allerdings ein Pfund, mit dem man wuchern könnte. Und auch tut: Unter dem Motto Klesmer zwischen Tradition und Innovation findet das 6. Klesmerfestival auf dem Klesmerplatz in Salzgitter-Bad statt. Allerdings vermitteln ein Sabbath Hela Veckan paar Reihen Plastikstühle eher den Eindruck eines Kurkonzertes, der Andrang hält sich auch in Grenzen. Die Straßenkomödianten Olga und Leo von Bellenstein geben aber nicht wegen gähnender Leere nach einer halben Stunde auf, sondern weil eine aggressive Kinderschar versucht, dem Stelzenläufer die Krücke zu entreissen.

Genausowenig wie Klezmermelodien jiddische Gebete in Musikform sind - wie ein lokales Käseblatt irgendwo abgeschrieben hat -, noch Giora Feidman für das Klezmer-Revival verantwortlich ist (-> FW#21, FW#21, FW#22), so durfte man in Salzgitter weder Klezmermusik erwarten, noch jüdische Kultur erfahren. Aber die alten sölterschen Klesmer haben ja auch keine Klezmermusik gespielt.

Das deutsch-indische Quintett Ahimsa - das bedeutet soviel wie passiver Widerstand - macht Musik im Geiste Ghandis, hier: Ragaimprovisationen paaren sich mit Klassik und Jazz. Das Ensemble Romantika aus der salzgitterschen Partnerstadt Imatra mit ihrer Sängerin Elena Putina spielt sich durch ein Repertoire von melancholischen und schmalzigen russischen Weisen. Das ist eine Stadt wie aus einem Kinofilm, findet die Akkordeonspielerin. Welcher Film war das? Antwort an diese Adresse!

Einzig die Stockholmer Band Sabbath Hela Veckan - was so viel heissen soll wie Jeder Tag der Woche ist Sabbath - mit Musikern aus Schweden, Finnland und den USA ist klassischem Klezmer verpflichtet: Klarinette und Geige, Saxophon und Posaune, unterlegt von Akkordeon und Kontrabass. Allerdings mischt sich auch The Original Kocani Orkestar bei diesem Jewrobeat Orchestra Klezmermusik mit Zigeuner- und osteuropäischer Musik und Jazz.

King Naat Veliov & The Original Kocani Orkestar ist durch die Filme Emir Kusturicas bekanntgeworden. Veliovs Familie aus einer türkisch-sprechenden Roma-Gemeinde in Mazedonien hat sich seit Generationen dem Trompetenspiel verschrieben. Mit selbigem Instrument, Tuba, Klarinette und viel Perkussion reisst die Brassband die Leute mit (wenn auch nicht von den Sitzen). Gleichermaßen basierend auf der Tradition osmanischer Militärkapellen und westlicher Orchester mischt das Kocani Orkestar alte Roma-Tänze mit türkischem und arabischem Pop wie auch lateinamerikanischen und jazzigen Rhythmen: Die wahnwitzig sich steigernden Rhythmen und delirierenden Stakkati, die sich verzehrenden Melodien sind für Musiker und Tänzer beides: Ausdruck rauschhafter Lebenslust und musikalische Droge gegen Trauer, Schmerz und Verzweiflung.

Wenn man so will: Ganz in der Tradition der Badenser Klesmer, die in der weiten Welt zu Hause waren. Nur eines müssen wir uns doch abschließend fragen: Was ist eigentlich aus der Ankündigung von Helmut Eisel (-> FW#13, FW#14, FW#25) aus dem vorigen Jahr geworden, aus einem der alten sölterschen Klesmerlieder ein echtes salzgittersches Klesmerstück zu arrangieren (-> FW#23)?

Szenenwechsel. Zu schön, um vorbeizufahren, verheisst das Ortsschild der Roswithastadt Bad Gandersheim. Reichsfrei, d.h. nur Papst und Kaiser verpflichtet, hat sich das 852 gegründete Kanonissenstift im Mittelalter zu einem religiös wie politisch bedeutenden Zentrum entwickelt. Heute wäre es nahezu unbekannt, wenn nicht die gute Roswitha von Gandersheim gewesen wäre.

Roswitha seit über 1000 Jahren Bad Gandersheims First Lady: Schon im Mittelalter fortschrittlich gewesen zu sein, darf Bad Gandersheim durchaus für sich in Anspruch nehmen. Schließlich hatten die Stiftsdamen nicht nur das Sagen, sondern auch das Schreiben. Die berühmteste Tochter der Stadt, Roswitha von Gandersheim, schuf vor über 1000 Jahren eigenwillig gestaltete Dramen, denen ausdrucksstarke Sprache und überraschend differenzierte Psychologie bis heute Aktualität verleiht. Roswitha (ungefähr 930-980) ist übrigens nicht nur die erste namentlich bekannte Schriftstellerin in Deutschland, sondern in der gesamten christlichen Welt seit der Antike. Das Werk der begabten Kanonisse, die selbstbewußt Kaiser Otto I. ihre Dichtungen widmete, geriet für lange Zeit in Vergessenheit. Erst im Jahre 1501 konnte es in Buchform, versehen mit Illustrationen aus der Werkstatt Albrecht Dürers, der gebildeten Welt zugänglich gemacht werden. Die nahm das Buch begeistert auf und lobte Roswitha überschwenglich als deutsche Sappho oder Elfte Muse. [BGdh]

Die Gandersheimer Domfestspiele begründen sich aus den Feierlichkeiten zum 1100jährigen Bad Gandersheim Gründungsjubiläum des Stiftes Gandersheim im Jahre 1952. Seitdem gibt es alljährlich im Sommer ein Theater- und Musicalprogramm vor dem imposanten Portal des Domes.

Die Briten haben bekanntlich den Fußball erfunden. Nationalbewußte Iren haben zwar versucht, mit Gaelic Football ein eigenes Spiel zu etablieren, doch ist es nicht gelungen, das fremde Spiel gänzlich von der Grünen Insel zu verbannen. Die Iren haben bereits 1890 einen eigenen Fußballverband gegründet und 1890 wurde im nordirischen Dörfchen Millford zum ersten Mal in der Fußballgeschichte ein Elfmeter ausgeführt.

Gott ist Ire, Gott ist katholisch, Gott hat den Fußball erfunden. Und darum ist Fußball auch ein herrliches Spiel. So lautet jedenfalls das Credo der Protagonisten von Andrew Lloyd Webbers The Beautiful Game.

Belfast 1969: Nordirland steht kurz vor dem Ausbruch der Troubles. Der Bürgerrechtsprotest der sozial benachteiligten katholischen Bevölkerung trifft auf den Widerstand der um ihre Privilegien fürchtenden Protestanten. Eine Spirale der Gewalt schaukelt sich auf. Unter den Augen des Father O'Donnel trainieren die Teenager eines katholischen Fußballteams. Doch Sektiererei, Hass und Gewalt untergräbt den Teamgeist. Engstirnigkeit und Fanatismus allenthalben, Mord, Knieschuss für vermeintliche Verräter und Kollaborateure, Internierungslager. Da ist der protestantische Del, der sich als Atheist fühlt, aber als protestantischer Atheist trotzdem nicht mehr bei seinen katholischen Kumpels mitspielen darf. Das Stürmer-Ass wird zum IRA-Killer. Zurück bleibt der weibliche Bevölkerungsanteil, der dem fußballbegeisterten Nachwuchs nur den Rat auf den Weg geben kann: Das Spiel fängt gleich wieder an. Hoffen wir, dass du und deine Freunde es besser spielen, als wir.

Nein, Lloyd Webber bezog seine Inspiration nicht von Bobby Sands, dem IRA-Hungerstreikenden - und Verteidiger des Star of Sea-Fußballclubs (-> FW#23). Vielmehr stand das Siegerteam von 1968 der Holy Cross School in der katholischen Enklave Ardoyne Pate für die Geschichte. Ein BBC-Reporter hatte überlebende Spieler aufgespürt: Einer starb in einem loyalistischen Anschlag, ein anderer wurde von der IRA exekutiert, die ihn als Informanten beschuldigte. The Beautiful Game, www.bad-gandersheim.de Viele andere sind geflohen.

Lloyd Webber war kontroversen Themen nie abgeneigt und Nordirland sei ein gutes Beispiel, wie Fanatismus Leben ruiniere: Man schaue nur auf den Kosovo oder den Mittleren Osten - es ist immer dieselbe Geschichte. Ich wollte ein persönliches Drama vor dem finsteren Hintergrund des Konflikts machen. Ich habe mir auch Sorgen gemacht, in welche Richtung das moderne Musical geht. Dieses hier nennt die Dinge beim Namen. Lloyd Webber fügt hinzu: Herausforderungen im Musiktheater sind mein Lebenselixier. Darum haben meine Figuren auch von Jesus Christus bis zur Frau eines argentinischen Diktators variiert.

Musikalisch erwartet einen der typische Webber Sound, romantische Balladen wechseln mit übermütigen Tanzeinlagen, spärlich angereichert durch Elemente irischer Folklore. Drei Hauptmelodien ziehen sich durch das gesamte Stück, das Titelstück ist eine Hymne, die sich von einem Fußballschlachtgesang herleitet. Whistle und Harp kommen in Bad Gandersheim aus dem Computer, Gitarre, Keyboard und Geige sind echt.

Besorgte Kritiker warnen vor strong language und scenes that younger children may find disturbing. Der Texter des Stückes - und hauptberuflich Komiker - Ben Elton (Blackadder) kichert: Dies ist das erste Lloyd Webber-Musical, in dem sich affection mit erection reimt.

Na denn: Anpfiff, Schuss, Toooooooooooooooooooooor!!!


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© The Mollis - Editors of FolkWorld; Published 09/2003

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