FolkWorld Live Review von Walkin' T:-)M; 9/2002:
Ich stehe auf dem Wall der alten Wikingersiedlung Haithabu bei Schleswig, der ältesten städtischen Siedlung im Norden Europas. Im Jahre 965 berichtet der arabische Kaufmann und Diplomat At-Târtuschi über seinen Besuch: Nie hörte ich hässlicheren Gesang, und das ist ein Gebrumm, das aus ihren Kehlen herauskommt, gleich dem Gebell der Hunde, nur noch viehischer als dies. Na, das ist ja kein gutes Vorzeichen für einen Besuch des Festivals im dänischen Tønder.
Anderthalb Stunden später irre ich auf dem zum Festivalgelände zugehörigen Campingplatz hin und her, um ein Fleckchen Grünes zu finden. Die Nachkommen der Wikinger ziehen ihre "Danewerke" hoch. Ganze Wagenburgen, die sich B R E I T machen, und für befreundete Wagenburgen ein Plätzchen freihalten. Schließlich finde ich noch 2 x 2 unbewachte Meter, in die ich mich quetschen kann. (Komischerweise sind 24 h später viele der zäh verteidigten Flecken noch immer unbesetzt.)
Das Programm des Tønder-Festivals ist beeindruckend und vielleicht das beste, das auf dem europäischen Kontinent zu finden ist. Diese Jahr gibt es 28 Konzerte an 8 Spielorten mit 38 Gruppen und Solisten. 1.700 freiwillige Helfer sorgen für den reibungslosen Ablauf. 26.278 Tickets sind zu verkaufen gewesen und 20.000 sind bereits am ersten Tag unter die Leute gebracht worden. Im Programmheft wird an diesjährige Absetzung des Folkmagazins "Folk Nyt" im dänischen Radio erinnert und die Wahlen im vergangenen November, die eine rechtspopulistische Regierung an die Macht gebracht hat: Unsere Musik muss nun versuchen, unter neuen, raueren Bedingungen fortzubestehen. Es ist noch nicht klar, inwiefern die neue politische Landschaft Folkmusik in Dänemark beeinflussen wird, aber unsere Erfindungsgabe und unser Einfallsreichtum werden auf jeden Fall auf den Prüfstand gestellt werden.
Freitag: Im großen Zelt 1 wartet die Alan Kelly Band mit fettem Brass-Sound auf, und noch fetterem Pianoakkordeon. Alan hat seinen Bruder John an der Flöte und das who's who der irischen Musikszene mitgebracht. Ich erkenne Bassist James Blennerhassett (-> FW#22), Gitarrist Arty McGlynn (-> FW#14, FW#22) und Fiddler Tola Custy (-> FW#5, FW#12, FW#17, FW#20). Dervish im Anschluss ist wie immer mächtig gewaltig (-> FW#3, FW#3, FW#19, FW#19). Ein neues Album ist in Arbeit und es gibt schon ein paar Sets und Songs zum Vorgeschmack. Dylans "Boots of Spanish Leather" sowie das traditionelle "The Cocks are Crowing": der Jüngling klopft stundenlang an die Tür der holden Maid - vergeblich, er wird nicht rausgelassen. Insgesamt scheint mir das Sextett etwas introvertierter geworden zu sein. Was nicht zum Nachteil gereicht. Zum Schluss geht dann aber doch noch die Post ab. Cherish The Ladies mit der neuen Sängerin Heidi Talbot ist der Hauptact (-> FW#4, FW#4, FW#10). Ich finde Repertoire und Arrangement etwas bieder, aber Powerfrau Joannie Madden und die Steptanztruppe reissen mit. Der Nostalgieklassiker "Hard Times" ist dem 11. September gewidmet (-> FW#21, FW#22). Zum Schluss intonieren alle drei Gruppen gemeinsam den "Rambling Irishman".
Das Tønder-Festival weist einige Besonderheiten auf, an die man sich gewöhnen
muss. So braucht man eine Eintrittskarte für jedes einzelne Konzert, das man
besuchen will. Pech gehabt, wenn es einem dann nicht gefällt. Für meinen Geschmack
schafft das keine wirkliche Festivalatmosphäre,
es wirkt eher wie eine Aneinanderreihung von einzelnen Konzerten mit einem Volksfest
drumherum. Alle Spielorte sind bestuhlt (so etwa wie Rudolstadt Marktplatz ->
Artikel in dieser Ausgabe). Eventuelle Tänzer sind im wahrsten Sinne des Wortes
an den Rand gedrängt. (Hey, jetzt habe ich doch tatsächlich eine Lanze für die
Tänzer gebrochen, das muss rot im Kalender angestrichen werden.) Die Spielorte
sind gut gefüllt. Mit scheint jedoch, dass das Publikum leicht angegraut ist.
Man sollte darauf achtgeben, dass Zuschauer auch nachwachsen, sonst wird es
mit der 40. Ausgabe des Festivals schwierig.
Samstag: In der Visemøllen spielen zwei musikalische Schwergewichte,
von denen jeder auf seine Art Folkgeschichte geschrieben hat:
Brian McNeill
(Fiddle, Bouzouki, Gesang ->
FW#4,
FW#10,
FW#10,
FW#19) und
Ron Kavana
(Gitarre, Gesang -> FW#6,
FW#13).
Die Beiden bieten einen repräsentativen Querschnitt durch das jeweilige
Schaffen, von "Irish Ways" bis
"Reconciliation",
Brians Liebeserklärung an seine Fiedel und eine Elegie für Hamish Henderson
(-> FW#22).
Trotz dem ein und anderem Jig und Reel dazwischen, in der Ruhe liegt die
Kraft. Die braucht man jetzt auch, denn man hat ein paar Stunden frei bis zu
den Abendkonzerten.
Der Abend beginnt im Zelt 1 mit einer positiven Überraschung. Die
australischen Waifs
(-> FW#20)
sind mit einer furchtbaren Country-Nummer auf dem Tønder-Sampler
(-> Rezension in dieser Ausgabe) vertreten, spielen aber ansonsten durchaus
hörenswerten, erdigen Folk-Pop. Über die
John Wright Band
im Nachbarzelt kann ich nichts berichten, da mich der Blockwart nicht mit
meinem Becher Bier durch den Eingang lässt. Ja, unter solchen Umständen kann
ich nicht arbeiten. Oder habe ich den Journalisten-Kodex verletzt:
kein Alkohol am Arbeitsplatz!
Also spaziere ich einmal in die Innenstadt von Tønder. Leider fängt es gerade
an zu regnen. Das Wetter ist generell tagsüber sonnig und warm, nachts fallen
immer ein paar Tropfen. In der Fußgangerzone steppt der Bär, oder jedenfalls
die einheimische Jugend. Ich renne um das Gymnasium herum, um den Eingang zu
suchen, und entdecke schließlich eine offene Tür. Ich finde mich in einer kleinen
Turnhalle wieder, in der eine Kneipe eingerichtet ist. Das Konzert findet in
der Aula nebenan statt. Ich merke erst gar nicht, dass da North
Cregg spielt (-> FW#9,
FW#19), weil die neue
Sängerin Fiona Kelleher gerade ein Stück im "Country&Irish"-Stil zum Besten
gibt. Das Gute ist, man kann in der Kneipe sitzenbleiben und das Ganze über
Lautsprecher anhören. Man muss ja nicht alles gesehen haben. Anschließend spielt
die junge Band La Volée d'Castors
aus Quebec. Eine Stunde lang wird das Publikum mit pausenlosem Reel an Reel
und Simultansteptanz in Atem gehalten. Es ist die einzige Gruppe, die sich zwei
Zugaben erkämpft, und schließlich auch die Dänen und das kanadische Botschafterehepaar
von den Stühlen reisst.
Danach haben es Dervish schwer. Aber
wir erfahren, warum Musiker so gerne nach Tønder kommen: It's good for the
soul, but also good for the liver. Es ist die Nacht der gerissenen Saiten,
die Mandola mehrmals, Gitarre und Fiddle nur einmal. So kommen wir zu einem
unverhofften Intermezzo: "Ar
Éirinn ní neosfainn cé hí".
Das Privileg des Pressemenschen ist es, an Orte zu kommen, die dem gemeinen
Festivalbesucher verschlossen sind. Nämlich "backstage". Und gottseidank steht
der FolkWorld-Vertreter nicht unter Termindruck, muss also nicht wie andere
Kollegen mit dem Laptop in der Ecke hocken und nervös Kaffee schlürfend und
Zigarette rauchend am abzuliefernden Artikel feilen. In der Musikerbar
zwischen den beiden Konzertzelten entdecke ich - ausser den jammenden
Studerende fra Det Fynske Musikkonservatoriums Folkemusiklinie
- zwar keine Musiker, dafür aber viele Dänen. Entweder bechern die
trotz der horrenden Preise wie die Bessessenen oder sie können nicht viel vertragen.
Entsprechend ist die Atmosphäre. Interessanter geht es in der Backstage-Bar
hinter dem großen Zelt zu: Drinnen hat sich eine Session um die Akkordeons von Seamus Begley
(-> FW#14)
und Karen Tweed
(-> FW#1) gebildet.
Draussen sammelt sich alles um die Mandoline von
Tim O'Brien
(-> FW#).
Auf seinem T-Shirt ist zu lesen: Sex, drugs, and
Flatt & Scruggs.
Das wirkt in der Country- und Bluegrassmusik ziemlich fremdartig,
der Musik der amerikanischen Mittelklasse, wo Kinder noch ihre Lehrer
respektieren, Drogen tabu sind und ,Old Glory' stolz vor dem Gerichtsgebäude flattert
(Bill C. Malone -> Tom's Night Shift in dieser Ausgabe).
Merle Haggards
"Okie from Muskogee"
ist zwar als Satire geschrieben, aber vom Publikum durchaus ernstgenommen worden:
Aber ich schweife ab. Die Jungs und Mädels von Dervish gesellen sich dazu.
Séamus O'Dowd klampft Bluegrass auf der Gitarre und Cathy Jordan singt
Countrystückchen. Über allem liegt ein Whiff, wie ich ihn nur von Festivals
in Holland kannte. Um vier Uhr morgens schleiche ich schließlich zum
Nachtquartier. Der Zeltplatz ist ausgestorben. Halt nicht ganz. Die einzige
Ausnahme haust nur zehn Meter entfernt und dudelt immerfort dieselbe
Runrig-Kassette
(-> FW#6,
FW#10,
FW#17,
FW#22).
Sonntag: Der Festivalhöhepunkt ereignet sich gleich am Morgen. Die
Duschen sind gut, warm und man muss nicht einmal Schlange stehen. Im Klubzelt
auf dem offenen Festivalgelände spielen regionale Bands, u.a. gerade die
Islanders,
Schotten im dänischen Exil.
In den beiden Zelten findet "Ceilidh" statt - und das im Sitzen.
Sinn der Veranstaltung ist die Zurschaustellung der Festivalteilnehmer
in allen möglichen und unmöglichen Kombinationen:
John McCusker
(-> FW#6,
FW#17)
demonstriert seine Talente auf der Fiddle und seinen neuen Haarstyle.
Ob sich deshalb die Batties
einen neuen Fiedler mit Schwiegersohnhaarschnitt zugelegt haben.
Bei allen passenden und unpassenden Gelegenheiten springt Moderator
Brian McNeill
(im anderen Zelt Ron Kavana) mit Fiddle oder Bouzouki bei oder bringt die Menge
Regenschirm schwenkend zur "Laola". Sage da noch einer, Dänen wären zurückhaltend.
Die Dubliners und
Ronnie Drew
(the daddy of the group but a prodigal daddy as he keeps leaving us
-> FW#19,
Artikel in dieser Ausgabe) bieten einen Vorgeschmack auf den Abend und bringen mit
"Seven Drunken Nights" und
"Dirty Old Town"
die Leute auch ohne Animation zum Klatschen. (Die Dubs tragen wohl die Schuld daran, dass viele glauben, bei der dreckigen
alten Stadt handele es sich um Dublin.)
Nachdem ich mit meinen Campingnachbarn mit Wein und Gammel
Dansk fraternisiert habe, kommt das große Finale. Einige stehen schon 2
h lang in der Schlange. In der Backstage-Bar tobt jedoch weiterhin die Session:
Mike McGoldrick
(-> FW#14) hat sich
zu den Akkordeons gesellt. Brian McDonagh schraubt schon wieder an allen Mandola-Saiten.
Da kann man schon mal die Chronistenpflicht vergessen, bzw. das Bühnengeschehen
auf dem TV-Set im Auge behalten: Nach dem Ehrerweis für den vor zwei Jahren
verstorbenen Derroll
Adams (-> FW#13)
folgt das 40jährige Bandjubiläum der Dubliners.
Fiddler John Sheahan erläutert in einem kürzlichen Interview das Erfolgsrezept:
1962 - das war eine völlig andere Welt. Die irische Musik, das war die Welt
der älteren Generation. Die Art der Dubliners war neu und erfrischend, sie brachte
eine ganz andere Vitalität hinein. Die älteren Musiker haben alle gesessen.
Wir standen auf der Bühne, wir haben gespielt und gesungen, und wir haben uns
bewegt. Die Leute schienen das zu mögen. Wir haben die Leute magisch zur irischen
Musik hingezogen, der wir neues Leben eingehaucht hatten. Ich begebe mich
nur mal kurz zu meinen Pressekollegen, die wie die Geier vor der Bühne hocken
und scheinbar auf das Ausröcheln eines der Beteiligten warten, um das Foto des
Jahres zu machen.
Als ich später ins Zelt klettere, klingt Ronnie Drews Ermunterung herüber (frei nach Johnny Duhan):
Vielleicht gibt es nächstes Jahr ja doch noch eine Dubliners-Inkarnation.
Und wenn die Dänen jetzt noch dem Euro beitreten, komme ich gerne wieder.
Festival Homepage: www.tf.dk
Mehr Berichte zum Tønder-Festival 2002: Die Tønder-Festivals der vergangenen Jahre in FolkWorld:
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And count its many tears...
Arm in arm we'll stand, side by side together,
To face the common foe who would tear our love asunder.
We don't take our trips on LSD,
We don't burn our draft cards down on Main Street,
We like living right and being free.
Don't quit if you can,
The weight upon your shoulder
Will make you a stronger man.
Singer/Songwriter Legenden und neuere Gesichter
(von Gerald Trebaticky), und Personal impressons
from 5 days in Tønder (von Eugene Graham)
2001a, 2001b, 2000,
1999a, 1999b,
1998
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