FolkWorld Ausgabe 41 03/2010; Artikel von Walkin' T:-)M


Frisia non cantat
Ein musikalischer Streifzug durch Nordfriesland

Frisia non cantat - der Friese singt nicht. Dem berufenen Munde des römischen Historikers Tacitus folgend haben wir Nordfriesland jahrelang möglichst schnell durchfahren, um zum dänischen Tønder-Festival zu kommen. Dabei hat auch Nordfriesland folks-musikalisch einiges zu bieten.

Drones & Bellows mit Brian McNeill, Tonder 1999

Drones & Bellows @ FolkWorld:
FW#10, #11, #12, #19, #22, #30

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www.drones-bellows.de

Tønder Folk
Festival (#37)

Die Grenzen haben sich hier schon immer verschoben. Im Jahre 810 hatte sich Karl der Große mit den Dänen über die Eider als Grenze geeinigt; Bismarck gliederte 1864 die Herzogtümer Schleswig und Holstein in den preußischen Staat ein. Der Versailler Vertrag von 1919 legte dann aber eine Volksabstimmung über die Staatszugehörigkeit fest. So kommt es, dass Tønder, dessen kulturelles Highlight das alljährlich am letzten Wochenende im August stattfindende Tønder Festival ist, heute zu Dänemark gehört.

Nordfriesland liegt im Nordwesten Schleswig-Holsteins und umfasst den Küstenstreifen an der Nordsee zwischen den Flüssen Eider (Dithmarschen) und Vidå (Dänemark) sowie die Nordfriesischen Inseln. Im sprachenreichsten Kreis Deutschlands leben knapp 160.000 Menschen: man spricht (Hoch)Deutsch, Plattdeutsch, Dänisch, Südjütisch (Sønderjysk) und Friesisch. Die deutsch-dänische Gruppe Drones & Bellows, bekannt von ihrer Zusammenarbeit mit dem schottischen Musiker Brian McNeill (FW#40), und das Husumer Dragseth Duo haben sich auf ihrer CD "Hiimstoun" aus dem Jahre 2004 dieser babylonischen Sprachvielfalt angenommen.

Lasst uns von Tønder aus die Bundesstraße B5, die Grüne Küstenstraße in der Marsch, Richtung Süden fahren. Süderlügum liegt auf der Grenze zwischen Marsch (niedriges, z.T. unter Meeresniveau liegendes fruchtbares Land an der Küste, meist eingedeicht und durch Kanäle entwässert) und Geest (das sich an die Marsch anschließende höher gelegene Gebiet; sandig, trocken und unfruchtbar). Am Ochsenweg haben sich viele Höker angesiedelt, die vom Grenzhandel mit Dänemark profitieren. In der Süderlügumer Marienkirche hängen sieben Portraits der Pastoren-Familie Claudius, deren berühmtester Sohn der Dichter Matthias Claudius ist. Der 1740 in Holstein geborene Schriftsteller hat liedhafte Lyrik wie „Der Mond ist aufgegangen“ geschrieben, aber auch aufrüttelnde Zeilen wie: S' ist Krieg - und ich begehre nicht schuld daran zu sein!

Hannes Wader, Tonder 2009

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In Struckum wurde im Jahre 1806 auf dem letzten Hügel der in die flache Marsch abfallenden Geest die Windmühle „Fortuna“ errichtet. Der Kellerholländer (mit einem Keller für Fuhrwerke) ist bis Ende der 1960er Jahre in Betrieb gewesen. 1973 wird die Mühle von dem Liedermacher Hannes Wader zu einer Wohnmühle umgebaut, die er bis 1998 bewohnt. Wader: Ich bin immer wieder gefragt worden, wie sich die Inhalte meiner Lieder mit dem Besitz einer Windmühle vereinbaren lassen. Die Antwort lautet: Gar nicht. In der Mühle werden die zwei legendären „Folk-Friends”-Alben aufgenommen. Hannes rief und Finbar Furey, Davy Arthur, Alex Campbell, Wizz Jones, Derroll Adams und Werner Lämmerhirt kamen. Wader singt zusammen mit Guy Carawan:

Brüder seht die rote Fahne, weht euch kühn voran.
Um der Freiheit heil'ges Banner schart euch Mann für Mann.
Haltet stand, wenn Feinde drohen, schaut das Morgenrot.
Vorwärts ist die große Losung: Freiheit oder Tod.
Hannes Wader hat dabei wohl an den alten Friesenschlachtruf Lever dod as Slaav (Lieber tot als Sklave) gedacht.

An dieser Stelle lohnt ein Abstecher Richtung Osten (B199). Zwischen Leck und Stadum weist ein Hinweisschild „Rio Reiser Haus“ scharf links in den Wald hinein. Eine mit Ulmen gesäumte Auffahrt führt zu einem 230 Jahre alten Bauernhaus mit Reetdach. Windmühle Struckum Hinter dem Haus liegt der König von Deutschland unter einem Apfelbaum begraben. Das Grab ist nicht ganz so kitschig, wie ich es mir aus Erzählungen vorgestellt habe (verglichen beispielsweise mit irischen Grabstellen).

Rio Reiser, der am 9. Januar 2010 seinen 60. Geburtstag hätte feiern können, gründete 1970 gemeinsam mit R.P.S. Lanrue (Gitarre) und Kai Sichtermann (Bass) die Anarcho-Rock-Band Ton Steine Scherben . Die Scherben skandierten „Keine Macht für Niemand“, „Ich will nicht werden, was mein Alter ist“ und „Macht kaputt, was euch kaputt macht“. Mit aggressiven Texten und Gitarrenriffs starteten sie den Angriff auf den deutschen Schlager und waren die erste wirkliche Rockband mit deutschen Texten. 1975 flohen die Scherben vor den unentwegten Forderungen, eine Musikbox zu sein, die kostenlos zu jeder Hausbesetzung aufspielt, nach Fresenhagen. Die Scherben haben zwar den Soundtrack der außerparlamentarischen Opposition geschrieben, nur verkaufen durften sie ihn nicht. 1985 trennen sie sich aufgrund eines Schuldenberges, der höher als die höchste Erhebung Nordfrieslands ist. Rio Reiser ist bereit auf den Strich zu gehen und beginnt eine Solokarriere.

Am 20. August 1996 stirbt Rio I. Auf seinem letzten Album „Himmel & Hölle“ (1995) lässt er sich von Spielmannsliedern und Tanzmusik aus der Renaissance inspirieren und kombiniert Bänkelsang mit Rockmusik. (Rio hat 1975 Irland bereist und behauptet, die irische Volksmusik habe seinen musikalischen Werdegang nicht unwesentlich beeinflusst.) Kai Sichtermann spielt heute zusammen mit Sängerin Angie Olbrich Chansons und Evergreens im Duo Angel's Blue. Marius Del Mestre ist Sänger der Scherben-Coverband Scherben Family und hat einen Reiseführerkrimi Husum/Nordfriesland geschrieben.

Grabstätte Rio Reisers

„Von Matthias Claudius kennt man nur Der Mond ist auf-gegangen. Vielleicht bleiben von Rio und den Scherben ein paar mehr Lieder in Erinnerung.“ (Gert Möbius)

„Dem wahren und dem echten Heino zum Trotz ist Rio Reiser der einzige, wirklich deutsche Volkssänger unserer Zeit.“ (Frankfurter Rundschau)

www.rioreiserhaus.de

Mit der behördlichen Erlaubnis, Rio auf seinem Grundstück beerdigen zu dürfen, war die Auflage verbunden, aus Fresenhagen ein Kulturzentrum zu machen. Es entstand eine Veranstaltungsscheune, ein Gästehaus, ein Tonstudio und ein Museum. Gezeigt werden Kostüme, Masken, Musikinstrumente, Originalausgaben der Schallplatten, Faksimiles von Rios Tagebüchern und handschriftliche Texte seiner Songs. Aber auch Kuriositäten wie die Axt, mit der Nikel Pallat 1971 Fernsehgeschichte geschrieben hat: Der Scherben-Manager beschimpft in einer WDR-Talkshow über „Musik zwischen Protest und Macht“ Fernsehmacher und Plattenfirmenvertreter als Unterdrücker, zückt ein Beil und zerlegt den Tisch. Anschließend montiert er Mikrofone mit der Bemerkung ab, sie für eine Knastband gebrauchen zu können.

Die friesische Küste ist durch das Meer geprägt. Der römische Historiker und Naturkundler Plinius berichtet von einem armseligen Volk, das auf hohen Erdhügeln lebe und mit getrocknetem Kot seine kärglichen Speisen koche, damit sich ihre vom Nordwind erstarrten Eingeweide erwärmten. Sturmfluten wie die Grote Mandränke von 1362 reißen immer wieder weite Landstriche ins Meer, so z.B. die legendäre Stadt Rungholt. Detlev von Liliencron dichtet 1882:

Heut bin ich über Rungholt gefahren,
Die Stadt ging unter vor sechshundert Jahren.
Wo gestern noch Lärm und lustiger Tisch,
Schwamm andern Tags der stumme Fisch.

Das Rungholt-Epos „Trutz, blanker Hans“ kann man sich im NordseeMuseum Husum von Volker Lechtenbrink vorlesen lassen. Detlev von Liliencron, dessen Onkel Rochus von Liliencron in fünf Bänden „Die Historischen Volkslieder der Deutschen vom 13. bis 16. Jahrhundert“ (1865-69) gesammelt hat, lebte 1882/3 als Hardesvogt auf der Insel Pellworm - eine Art Stellvertreter des Landrats vor Ort. Liliencron wurde von den Pellwormern Tanzbaron genannt, weil er Gastwirten eine zeitlich unbegrenzte Erlaubnis erteilte, mit Musik aufspielen zu lassen. Pellworm ist die drittgrößte nordfriesische Insel. Sie besteht aus dem Westteil der ehemaligen Insel Strand, die 1634 in der Burchardiflut auseinandergerissen wurde. Die Häuser verteilen sich auf 156 Warften (künstlich aufgeschüttete Siedlungshügel), die aus dem durchschnittlich einen halben Meter unter dem Meeresspiegel liegenden Marschland herausragen. Die Insel wird von einem bis zu 8 Meter hohen Deich geschützt.

Dragseth Duo

Dragseth Duo @ FolkWorld:
FW #30, #32, #37

www.atelier-knortz.de
Aber nun weiter südwärts. Am Bredstedter Markt liegt „Fiedes Krog“, die der verstorbene Sänger Fiede Kay gepachtet hatte. Vertonungen von Carl Michael Bellman und Hermann Löns, sowie seine Teilnahme an diversen volkstümlichen Fernsehshows verhalfen ihm zu dem Titel norddeutscher Volkssänger. Es heisst, dass Fiedes Witwe die Gaststätte wieder mit Livemusik in Schwung bringen will.

In Husum, der grauen Stadt am Meer, hat Theodor Storm bereits 1859 einen Gesangsverein ins Leben gerufen. Das Dragseth Duo, bestehend aus Kalle Johannsen und Manuel Knortz, hat sich nach ihrer Stammkneipe, „Dragseths Gasthof“, benannt, das sich seit 1584 an der Husumer Zingelschleuse befindet. Ende der 1980er entstanden zwei plattdeutsche Schallplatten; nach zehnjähriger Trennung kam man wieder zusammen und spielt seitdem vor allem Stücke aus der anglo-amerikanische Folksong-Tradition. Johannsen und Knortz sind Träger des Hans-Momsen-Preises, des Kulturpreises des Kreises Nordfriesland, des Jahres 2008.

Südwestlich von Husum ragt die Halbinsel Eiderstedt mit einer Breite von knapp 15 km etwa 30 km weit ins Wattenmeer. Die Gegend bestand einst aus vielen kleinen Inseln, auf denen sich Ansiedlungen gründeten. Mit Hilfe von Eindeichungen wurden die Inseln bis 1489 zu einer zusammenhängenden Landmasse. Heute zählt die Halbinsel 20.000 Schafe, 19.000 Eingeborene und jährlich eine halbe Million Urlauber und Kurgäste, die insbesondere ins Seebad Sankt Peter-Ording fahren. Der Ort Garding befindet sich im Zentrum der Halbinsel. Der Orgelprospekt (kunstvolle Verkleidung des Pfeifengehäuses) von 1512 der St. Christian-Bartholomäus-Maria-Magdalena-Kirche ist der älteste Nordeuropas. Der Altertumswissenschaftler Theodor Mommsen wird als Sohn des Pfarrers am Markt 4 geboren; in dem Haus von 1572 befindet sich nun ein Museum. Für seine „Römische Geschichte“ wird Mommsen 1902 mit dem Literaturnobelpreis geehrt. Mit seinem Bruder Tycho und Theodor Storm gibt er 1843 das „Liederbuch dreier Freunde“ heraus, eine Sammlung selbstverfasster Gedichte.

Knut Kiesewetter, Zurück von meiner Welt-Tournee

Meine Laute nehm' ich wieder
Laute mit dem grünen Band;
Alte Lieder, neue Lieder,
und die Leute stehn gebannt.
Klingen fort und fort die Saiten,
und den Knaben glänzt das Aug‘,
und ein leiser Hauch der Zeiten
streift durch meine Saiten auch.

Der Sänger und Musiker Knut Kiesewetter hat ein Dutzend davon vertont: „Knut Kiesewetter singt Theodor Mommsen“ (1990). Kiesewetter hat klassische Posaune studiert. Unter Künstlernamen wie „The Big Kid“ macht er in den 1960ern Blues-, Jazz-, Rock-, Soul-, Gospel-, Chanson- und Folk-Aufnahmen. 1971 kauft er sich 12 km nördlich von Husum einen dreihundert Jahre alten Bauerhof. Gegen den Willen seiner Plattenfirma nimmt er die LP „Leder vun mien Fresenhof“ mit selbstverfassten friesischen und plattdeutschen Liedern auf. Die Produktion ist die erfolgreichste seiner 50 Alben. Er setzt damit eine Welle in Bewegung, die zu seinem Leidwesen bald immer mehr ins Volkstümliche abgleitet. Kiesewetter entdeckt und produziert u.a. Hannes Wader, Fiede Kay, Volker Lechtenbrink, Alex Campbell, Harvey Andrews, sowie die Gruppen Moin (FW#22) und Speellüüd. Seine letzte Platte heißt „Zurück von meiner Welt-Tournee“ (2000); Welt ist eine 275-Seelen-Gemeinde auf der Halbinsel Eiderstedt.

Wir kommen langsam zum Ende unserer Tour. An der Eider endet Nordfriesland und beginnt Dithmarschen, bestens bekannt durch den Mundartdichter Klaus Groth, der das Plattdeutsche salon- und literaturfähig gemacht hat, und bebildert durch den Roadmovie „Die Schimmelreiter“ aus dem vergangenen Jahr. Aber dies ist eine andere Geschichte. Frisia non cantat hat Tacitus geschrieben: Der Friese singt nicht! Stimmt gar nicht. Und wie man singt. Vielleicht in manchen Fällen eher nach innen hinein, aber er singt.

Wie dort hoch die Wolken ziehen!
durch die Saiten fährt der Wind;
Und er weht die leichten Lieder
In die weite Welt geschwind.
Musikanten wollen wandern!
Schon zur Neige ging der Wein;
Ziehn die Lieder in die Weite,
Muß der Spielmann hinterdrein.

www.lagfolk.de

Photo Credits: (1) Drones & Bellows (by The Mollis); (2) Hannes Wader, (3) Windmühle Struckum, (4) Grabstätte Rio Reisers (by Walkin' Tom); (5) Dragseth Duo, (6) Knut Kiesewetter (unknown).


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© The Mollis - Editors of FolkWorld; Published 03/2010

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