FolkWorld Ausgabe 38 03/2009; Artikel von Simone Fromm


Bewahre die Leidenschaft in Dir
Carlos Núñez im Interview

Wer je die Gelegenheit hatte, mit Carlos Núñez nach einem seiner Konzerte ins Gespräch zu kommen, ist von seiner ruhigen und offenen Art beeindruckt. Ein Star zum Anfassen, ein Musiker ohne Allüren. Ich war mit Carlos anlässlich seiner Celtic-Flamenco-Tour in Deutschland 2008 in Lörrach verabredet. Zwischen Soundcheck und Auftritt nahm er sich die Zeit, meine Fragen zu beantworten. Ein Interview mit Carlos über Leidenschaft, Respekt vor dem Alter und Zukunftspläne.

Carlos Núñez

Carlos Núñez @ FolkWorld: FW# 3, #3, #4, #5,
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Carlos, 1997 warst Du zum ersten mal in Deutschland auf Tournee. Inzwischen nimmt deine Popularität auch bei uns zu, die Begeisterung für deine Musik wächst und gewinnt auch hier immer mehr begeisterte Anhänger. Wie empfindest Du das deutsche Publikum - sind wir wirklich so unterkühlt, wie immer behauptet wird? Gibt es Unterschiede zu Konzerten in Frankreich, Spanien oder auch Japan?

Nun, zuerst muss ich sagen, dass mich die Deutschen, das deutsche Publikum, sehr überrascht hat. Absolut. Jeder glaubt, dass das deutsche Publikum sehr zurückhaltend wäre. Überhaupt nicht! Ich denke, es sind sehr intelligente Leute. Es ist doch so - wenn du dich für etwas begeistern willst, dann kannst du begeisterungsfähig sein, vielleicht sogar mehr, als andere, wenn du das wirklich willst. Somit war das deutsche Publikum wirklich eine Überraschung für mich.

Wie du siehst, schaffen wir uns ein fast familiäres Publikum und genau wie in einer Familie muss man zusammenwachsen, das braucht eben Zeit. Aus dem gleichen Grund hat es auch in Spanien Jahre gedauert, oder in Frankreich. Heute geben wir in Frankreich oder Spanien große Konzerte, ebenso in Ländern wie Argentinien oder Irland, doch all das brauchte viele Jahre.

Dies ist keine Art von Musik, mit der man auf Anhieb Erfolg hat, mit der man auf Anhieb eine große Popularität erreicht. Ich glaube, so ist es besser, denn wenn Du auf Anhieb erfolgreich bist, dann hast du vielleicht ein, zwei oder auch drei Jahre eine Menge Anhänger, doch dann ist es auch irgendwann vorbei. Das ist aber nicht erstrebenswert. Ich bevorzuge die Art Erfolg, an dem man ständig arbeiten muss, um ihn weiterzuentwickeln, bei dem man das Gefühl hat, es geht ständig aufwärts. Es wird ganz allmählich herzlicher und enger und wärmer und das ist die momentane Situation in Deutschland.

Bei deinen Konzerten gibst Du immer wieder Nachwuchskünstlern und örtlichen Musikgruppen die Möglichkeit, mit dir live aufzutreten. Wie kommt diese Zusammenarbeit zustande? Wendet man sich mit der Bitte um einen gemeinsamen Auftritt an dich oder erkundigst du dich nach örtlichen Künstlern oder Gruppen, die du in dein Programm integrieren kannst?

Das ergibt sich. Manchmal kommen wir an einem Ort an, an dem es eine Musikschule gibt und du siehst diese jungen Musiker, die ich dann einlade, mit mir zu spielen. Es ergibt sich einfach, das kann man nicht planen. Manchmal gibt es auch Leute, die vorher Kontakt mit uns aufnehmen, vielleicht einen Monat vor dem Konzert oder einige Wochen davor. Warum wir das machen? In erster Linie, um musikalischen Nachwuchs heranzubilden, der uns in unserer Musik folgt.

Ein Beispiel: wir laden Piper ein, mit uns zu spielen… in Frankreich, in Spanien, in Deutschland… an vielerlei Orten, auch in Japan. Und dann, Schritt für Schritt, entstehen Pipebands. Wenn wir heute nach Sevilla, Barcelona oder Madrid kommen, gibt es da jede Menge Pipebands, ebenso wie in Frankreich und ich hoffe, auch bald in Deutschland. Sogar in Tokio - es gibt eine Pipeband in Tokio und sie haben dort sogar auch Gaitas. So läuft das.

Wenn wir solche Leute einladen, mit uns zu spielen….. das erinnert mich immer daran, wie es mir mit den Chieftains erging. Sie luden mich ein, mit ihnen zu spielen, als ich ein Junge war, ein Jugendlicher. Solche Augenblicke geben dir so viel Enthusiasmus. Daher glaube ich, dass es sehr wichtig ist, diese Möglichkeit zu geben, insbesondere jungen Menschen. Das ist für uns die Motivation, dies zu tun.

Carlos Nunez and Paddy Keenan, Tonder Festival 98; photo by The Mollis

Wie sehr hat die frühe Begegnung mit den "Chieftains" und die enge Zusammenarbeit mit ihnen deine musikalische Entwicklung beeinflusst?? Hättest du ohne sie mehr die klassische Musikrichtung eingeschlagen?

Nun, von Anfang an habe ich zwei Musikrichtungen parallel zueinander verfolgt - die klassische Ausbildung und die traditionelle Musik. Ich war immer davon überzeugt, dass es da eine Verbindung gibt. In Galizien, in meiner Heimat, sehen wir die Dinge einfach so. Es gibt nicht diese Trennung zwischen klassischer und traditioneller Musik. Jeder wusste, dass ich auf dem Konservatorium und gleichzeitig an einer klassischen Musikschule sein konnte. Mit einem Klavier oder mit einem Orchester aufzutreten - egal, da gab es einfach keinen Unterschied. Vielleicht wird in Ländern wie Deutschland mehr unterschieden, hier werden die Dinge sehr getrennt. Klassik ist Klassik, Rock 'n Roll ist Rock 'n Roll, Volksmusik ist Volksmusik. Nicht so in Galizien und das ist sehr wichtig.

Ja, die "Chieftains" zu treffen war sehr wichtig. Warum? Die "Chieftains" gaben mir die Möglichkeit, das Handwerk zu lernen. Um als Musiker erfolgreich zu sein, musst du einfach das Handwerk erlernen, genau wie ein Arzt, ein Rechtsanwalt… Es ist wie in jedem anderen Beruf auch, man muss lernen, wie der Job funktioniert, hinter die Geheimnisse des Berufes kommen. Manche Dinge lernt man auf dem Koservatorium und manche Dinge lernt man aus der Tradition. Und dann sind da die Geheimnisse, wie man eine Show entwickelt, wie man mit traditioneller Musik verzaubert, Musik, die die Leute normalerweise nicht unbedingt mögen. Man muss lernen, wie man diesen Spagat hinbekommt. Das bedeutete für mich dieses Zusammentreffen mit den "Chieftains" - dieser besondere Glücksfall, die einem nur selten wiederfährt. All das habe ich von ihnen gelernt.

Wer schon öfter in deinen Konzerten war, dem fällt auf, dass dein Programm jeden Abend variiert, du nie genau die selben Stücke spielst. Triffst du deine Titelauswahl willkürlich oder wonach entscheidest du, was abends zu hören sein wird?

Na ja, wenn du weißt, dass du auf Tournee gehst… Also während einer Tour haben wir normalerweise nicht die Zeit, viel zu verändern. Jeder von uns ist extrem müde. Auf Tour zu gehen ist so ähnlich wie eine "Tour de France" zu bestreiten, es ist eine langwierige Sache, ein ständiger Kampf gegen den inneren Schweinehund.

Wenn du 30 Konzerte hast, jeden Abend eines … wow… das ist eine ziemlich harte Sache. Und gleichzeitig versuchst du, nebenbei noch alles Mögliche andere zu tun. Wenn wir auf Tour sind, bereiten wir gleichzeitig unser nächstes Album vor, ich bereite meine nächste Reise nach Brasilien in der kommenden Woche vor, wir bereiten ein Konzert in Havanna vor, das für das Fernsehen aufgezeichnet wird und wir arbeiten gleichzeitig daran, was in den kommenden Jahren "on the road" passieren wird. Also ist alles eine Frage des Durchhaltevermögens. Man muss Körper und Geist trennen können. Manchmal weißt du gar nicht, in welcher Stadt du gerade bist, wie sie heißt, denn dein Kopf ist ganz woanders. Hier zu trennen, ist ungemein wichtig.

Normalerweise stelle ich bei einzelnen Konzerten das Programm kurz bevor ich auf die Bühne gehe zusammen. Ich sehe immer durch einen kleinen Spalt hinter dem Vorhang ins Publikum und schnuppere ein bisschen, um mich inspirieren zu lassen. Und dann stelle ich das Programm zusammen, zwei, drei Minuten, bevor ich auf die Bühne gehe. Doch dies hier ist eine Tour und alles läuft etwas mechanischer ab. Bei einzelnen Konzerten hast du immer die Möglichkeit, Änderungen vorzunehmen.

Carlos Nunez

Gibt es eine Art Ritual, eine bestimmte Routine, mit der Du Dich auf ein Konzert vorbereitest?

Ja, jeder Künstler hat kleine Geheimnisse, kleine Rituale. Ich erinnere mich an die portugiesische Sängerin Dulce Pontes. Sie versammelt normalerweise alle Musiker in einem Raum wie diesem hier, löscht das Licht, alle nehmen sich an den Händen, um …. so ähnlich wie die Indianer … um sich gegenseitig anzufeuern ' ….kommt, alle zusammen ….. hmmmmmmm'…

Also so ähnlich wie Fußballer vor einem Spiel?

Ja, so ähnlich.

Wir machen so etwas nicht. Doch für mich ist beispielsweise die Dusche ungeheuer wichtig. Ich nenne das die "Künstler-Dusche". Zehn Minuten vorher bist du noch eine ganz normale Person und wenn du heraus kommst, bist du der Künstler. Manchmal, während ich unter der Dusche stehe, rufe ich plötzlich jemandem draußen zu " … Titel 3 'Pilgrim's Sunrise', als nächstes gehen wir über zu …" und all' das, während ich unter der Dusche stehe.

Somit ist die Dusche für mich ein Augenblick der Konzentration, aber auch der Inspiration. Die Dusche am morgen ist für mich ungemein wichtig…. Dein Körper ist noch nicht wach… also, was ich sagen will… man befindet sich in einem Zustand zwischen Traum und Realität. Ein wirklich interessanter Moment. Unter der Dusche hast du wirklich verrückte und künstlerische Ideen.

Du bist einer der wenigen Künstler, die nach dem Konzert fast immer für Autogrammwünsche und Gespräche zur Verfügung stehen. Wie wichtig ist dir der Kontakt zu deinem Publikum, das Feedback der Konzertbesucher?

Sehr, sehr wichtig. Wie du weißt, rede ich immer mit den Leuten. Ich bestehe darauf, obwohl es bei Touren wie dieser sehr schwer ist, weil jeder von uns sehr müde ist. Und dennoch spreche ich nach jedem Konzert mit den Leuten, denn ich versuche, durch ihre Augen zu sehen, mit ihren Ohren zu hören. Ich versuche, von ihnen zu lernen, denn jedes Land ist anders.

Carlos Nunez Banda with Luis Robisco (left); photo by The Mollis Momentan bereite ich das brasilianische Album vor. Heute kenne ich die Brasilianer, doch als ich noch vor einem Jahr vor einem brasilianischen Musiker stand, wusste ich nicht, was ich zu ihm sagen sollte. Bei jedem Konzert, in jedem Land, gibt es Dinge, die in der Vorstellungskraft der Menschen funktionieren und Dinge, die nicht es eben nicht tun.

Wenn ich etwas Bestimmtes zu einem Franzosen sage, oder zu einem Bretonen, oder einem Schotten… wird diese Person verstehen und darüber sind wir glücklich. Jeder Mensch ist anders und jedes Land ist anders, also ist das meine Art, von jeder Kultur zu lernen. Heute weiß ich besser, wie die Deutschen sind, wie ihr seid, doch noch vor ein paar Jahren hatte ich keine Vorstellung davon. Du weißt einfach nicht, wie weit du gehen kannst, weißt du? In Japan sind die Grenzen andere als hier und in Spanien sind anders als dort. Also ist das meine Art von euch zu lernen - mit den Menschen nach den Konzerten zu sprechen.

2004 bist du im Rahmen des Irish Folk Festival unter anderem auch in der Peterskirche zu Leipzig aufgetreten, der früheren Wirkungsstätte von J.S. Bach, dessen Musik du besonders verehrst. Wie war es für dich, dort zu spielen? War etwas von der "Aura" des großen Meisters zu spüren?

Absolut! Das war ein unglaubliches Gefühl, denn es war eines der ersten Konzerte, in denen ich Bach live in der Öffentlichkeit spielte und es war Musik mit dem Dudelsack. In der "Peterskirche" hatte ich das Gefühl, dass alles stimmte - die Musik… der Dudelsack passte und die Leute passten. Das Publikum erschien mir wie Bachs Nachkommen. Sein Name schwebte über allem und die Leute sahen, nur ein paar wenige Generationen davor, zu ihm auf. Und ich spürte all' diese Dinge und dachte "Ja, das ist es. Wir hauchen einem ganz besonderen Geist wieder Leben ein."

Für mich liegt in Bachs Chorälen ein großes Geheimnis. Hinter der Struktur von allem steckt eine starke Metrik in der Musik, eine sehr klassische Struktur des Rhythmus. Und allem liegt viel älteres Material zugrunde: Melodien, die aus einer sehr weit zurückliegenden Zeit stammen. Durch dieses alte Material, das Bach versuchte, in seinen Chorälen zu verarbeiten, entstand der Rhythmus, um diese Polyphonie, die Vielstimmigkeit zu erreichen, wodurch einfach alles zusammenpasst.

Was ich zwischen den Zeilen sehe ist eine sehr alte Musik, die alte deutsche Musik. Ich hatte das Gefühl, dass ich mit dem Dudelsack dieser alten deutschen Musik, die es damals gab, wieder Leben einhauchte. Ich habe auch den Eindruck, dass wir in Galizien heute Dinge haben, die früher in Deutschland ebenfalls existierten. Also fühlte ich, dass ich hierher kommen sollte und ich fühlte mich zuhause. Und ich fühlte, dass die Menschen ebenso hierher kommen mussten, um sich zuhause zu fühlen.

Xurxo & Carlos Nunez, photo by The Mollis

Du und Xurxo seid musikalische Mulitalente, die immer wieder durch ihre Vielseitigkeit auf den verschiedensten Instrumenten beeindrucken. Wurde in eurer Familie viel musiziert? Spielen eure Eltern oder eure Schwester Helena ebenfalls Instrumente? Und wer hat euch an die Musik herangeführt?

Nun, das ist eine Geschichte, die mit unserem nächsten Album, dem brasilianischen Album, zu tun hat. Wir haben einen Urgroßvater, der Musiker war. Er spielte dieses Blasinstrument - Bombardino oder Euphonium - so ähnlich wie eine kleine Tuba. Er spielte in Brassbands, in diesen Brassorchestern, die damals sehr populär waren. Das war vor etwa hundert Jahren und er war also unser Urgroßvater. Seine ganze Familie bestand aus Musikern.

Dann wanderte er nach Brasilien aus, in der Hoffnung auf ein besseres Leben, denn Galizien war sehr arm damals. Für Musiker war es in unserem Land alles andere als einfach. Er ging also nach Brasilien und plötzlich hieß es, er wäre aus Eifersucht umgebracht worden. Doch das kann ich mir nicht vorstellen. Es hieß, ein andere Musiker, der auf ihn eifersüchtig war, hätte ihn getötet. Ich denke, er ging einfach nach Brasilien und blieb dort.

Von diesem Moment an war Musik in unserer Familie sozusagen tabu, es gab keine Musiker mehr. Mein Großvater war Geschichtslehrer, sehr kultiviert, sehr intelligent. Mein Vater ist Künstler, Graphiker, und auch Publizist, und in der nächsten Generation, mit Xurxo, mir, meinen Cousins, kehrte die Musik in meine Familie zurück. Also… ja… ich denke, Musik liegt uns irgendwie im Blut, auch wenn es da diese Geschichte gab, die Musik plötzlich zu etwas Schlechtem machte und niemand mehr darüber sprach. Mit unserem nächsten Album gehen wir also nach Brasilien, um auch unseren Urgroßvater zu finden.

Du hast kürzlich in Brasilien an deiner neuen CD gearbeitet. Worauf können wir uns freuen und wann soll sie erscheinen?

Mal sehen… Die Sache ist die, wir wollen natürlich ein tolles Album machen und investieren eine Menge Zeit und Geld in das Projekt, denn ich bin davon überzeugt, dass es fantastisch wird. Brasilien hat viel von uns, von Europa, von Galizien. Sie haben sich dort in gewisser Weise eine Art Mittelalter bewahrt, das uns verloren gegangen ist. Sie habe da immer noch diese bestimmte alte Art, Instrumente herzustellen, die Art zu singen.

Also gehen wir nach Brasilien, um unseren Urgroßvater zu finden und auf diesem Weg auch uns selbst in Brasilien zu entdecken, unsere Zukunft. Und die Verbindung, die wir zum Flamenco, zur lateinamerikanischen Musik schaffen, zu den Brasilianern, all das haben sie schon vor Jahren getan.

In deiner Heimat Spanien, aber auch in Frankreich oder Japan bist du ungeheuer populär, trittst in wesentlich größeren Arenen als bislang noch in Deutschland auf. Bevorzugst du die großen Hallen oder ist gerade die Nähe zum Publikum und die Intimität der kleinen Konzerthäuser oder auch Kirchen besonders reizvoll? Spürt man die Reaktionen des Publikums direkter?

Alles ist gut. Es ist nur anders, es ist so, als würde man verschiedene Früchte miteinander vergleichen wollen… oder… was ist besser: Weißwein oder Rotwein? Es ist einfach anders.

Carlos Nunez 1999; photo by The Mollis Also eine Frage der Einstellung?

Ja, so ähnlich wie die Leute, die ein großes Auto bevorzugen oder eben lieber ein kleineres. Wenn du auf eine Safari gehst, aus welchem Grund sollte man da einen Mercedes wählen? Auf einer Safari braucht man ein passendes Auto. Wenn Du zu einer Feier gehst, ziehst du dich elegant an, wählst die entsprechende Kleidung.

Ich glaube, für uns ist es wichtig, die Fähigkeit zur Anpassung zu besitzen, die Fähigkeit, auf unterschiedliche Situationen einzugehen. Ob du in einer Kirche spielst oder in einem Fußballstadium, in einer klassischen Konzerthalle oder einer Rock'n Roll Arena - es ist wie eine Eroberung, eine Herausforderung.

Um in einem Fußballstadium zu spielen, musst du viele Geheimnisse lernen, damit die Show an so einem riesigen Ort funktioniert. Du musst anders spielen als in einer kleinen Halle. Wenn ich in Spanien erzähle "… ja, in Deutschland spielen wir in Kirchen und die Leute können dort etwas trinken, manchmal haben sie Bier oder sie feiern und tanzen in der Kirche"… dann sagen sie Leute … unglaublich, so etwas wollen wir hier auch haben. Ist es nicht zu kalt? … Und ich antworte, manchmal ja, manchmal nein, denn im Winter haben sie dort Heizungen. …. Unglaublich, nicht zu fassen…."

Das ist ein neues Konzept und zudem sehr interessant. In Deutschland haben wir gelernt, wie man in Kirchen spielt, denn die Akustik ist sehr unterschiedlich. Du kannst also nicht mit den selben Instrumenten spielen, du musst wegen der gegebenen Akustik langsamere Stücke wählen. Aber letztlich ist alles gut, alles macht Spaß. Es ist nur anders.

Einen großen Teil des Jahres bist du auf Tour, bereist weltweit die unterschiedlichsten Länder. Welches Land fasziniert Dich mit seiner Kultur und seinen Menschen am meisten?

Jedes Land ist anders, jede Kultur hat ihre Kenntnisse, ihren Erfahrungsschatz. Wenn du in Ländern wie Japan auftrittst, weißt du, dass in allem eine Botschaft steckt. In Japan verehren sie die alten Menschen, sie verehren ihre alten Meister. Wenn sie einen hundertjährigen japanischen Weisen sehen, fragen sie "Meister, bitte Meister, sag uns, was du hierüber denkst" Und sie hören ihrem Meister zu, denn er ist derjenige, der über einen reichen Erfahrungsschatz verfügt. In anderen Ländern wollen sie keine Meister, dort sind nur junge Leute gefragt. Es ist also sehr verschieden. So ist Japan also in dieser Hinsicht sehr interessant.

Aber auch Lateinamerika ist faszinierend, es ist wie eine geheime Welt. Sogar Nordamerika ist faszinierend, wenn du siehst, dass die Leute auf eine Art leben, die du dir nie vorstellen konntest… dieses Gefühl von Freiheit. Ich denke, es ist einfach unterschiedlich und du kannst überall Paradiese finden.

Vielleicht sind die Orte von besonderer Magie, die fernab der großen Städte liegen, fernab des Trubels. Die großen Städte … Paris, London, New York… sie strahlen diese Vitalität aus und dann gibt es da diese Orte weit weg von all dem, manchmal Orte am Meer, aber abgeschieden und still. Und dieses Gefühl … die Brasilianer nennen das "Sertão", was soviel wie Wüste bedeutet. Ein Ruhepol fernab des Trubels. Manchmal leben die Menschen in solchen Paradiesen. Es gibt viele davon auf der Welt. Wenn du dich an einem solchen Ort befindest, das ist einfach….

Auch in Deutschland gibt es diese geheimen Paradiese, Menschen, die in schönen Häusern an abgeschiedenen Orten leben. Und ganz besondere Ort kannst du überall in Japan, Spanien, Italien finden.

Carlos Nunez; photo by The Mollis

Du hast schon mit unzähligen Künstlern und Musikern von internationalem Rang zusammen gearbeitet. Welche Begegnung, welcher Künstler hat dich am meisten beeindruckt - sowohl menschlich als auch künstlerisch - und gibt es jemanden, mit dem du unbedingt noch mal gemeinsam auf der Bühne stehen möchtest?

Mich beeindrucken besonders Menschen mit Lebenserfahrung. In erster Linie Compay Segundo. Er war achtundneunzig und hatte eine Freundin, die vierzig war. Oder die Chieftains…

Manchmal triffst du Musiker, Künstler, die zwar eine Menge Erfolg haben, doch du denkst "ok, du bist zu jung, für mich bist du noch zu jung". Es ist wie bei Picasso - wenn du dir den 30jährigen Picasso ansiehst, dann war das nicht der selbe, der er mit siebzig war. Das ist doch der Picasso, den wir heute lieben - der unsterbliche Picasso, voller Erfahrung.

Ich mag auch die Picassos der Musik. Menschen, die noch einen wachen Geist haben, denen aber vielleicht schon die Schnelligkeit und Beweglichkeit fehlt, doch das Wichtigste kommt doch von innen. Und natürlich wird jemand mit sechzig Jahren besser spielen als zu der Zeit, als er zwanzig war. Ein Beispiel: die gleiche Melodie … ein Zwanzigjähriger wird sie schnell, aber unsicher spielen und die gleiche Person, vierzig oder fünfzig Jahre später, wird mit dieser Melodie viele Dinge ausdrücken können. Das ist unglaublich.

In Argentinien heißt es "um Tango singen zu können, muss man alt sein", denn wenn es dir an Lebenserfahrung fehlt…. Oder anders ausgedrückt … um Tango zu singen, musst du im Leben gelitten haben.

Dann liegt mehr Emotion in allem…

Genau! Sieh mal, es gibt Künstler, die sind erst dreißig, aber sie haben dieses Strahlen in den Augen, dieses Feuer verloren. Irgend etwas ist passiert, was sie die Hoffnung verlieren ließ, die Hoffnung in die Musik, die Hoffnung in das Leben.

Carlos Nunez and Natalie MacMaster, Tonder Festival 99; photo by The Mollis Viele Menschen leben zwar, sie gehen ihren Berufen nach, doch ihnen ging diese besondere Energie verloren. Und wenn ich dann einen alten Musiker treffe, der sich dieses spezielle Feuer, diese Leidenschaft bewahrt hat …. das ist einfach fantastisch! Das ist etwas, das mich sehr beschäftigt: pass auf, verliere nicht das Feuer, bewahre dir deine Leidenschaft. Das ist sehr wichtig. Also bevorzuge ich mehr den Musiker mit sechzig Jahren Lebenserfahrung als denjenigen, der erst zwanzig ist.

Gibt es etwas, was du deinem deutschen Publikum, deinen deutschen Fans sagen möchtest?

Vielen Dank, dass ihr hier seid, jedes Jahr auf uns wartet. Ich weiß, dass wir in den letzten Jahren jedes Jahr herkommen und die Leute fragen mich manchmal 'Carlos, du kommst oft' und ich antworte dann "ja, wir nehmen diese Anstrengung auf uns, jedes Jahr hierher zu kommen, weil dies die einzige Möglichkeit ist, zu einer Familie zusammenzuwachsen."

An Orten, wo wir bekannter sind als hier, wie Spanien zum Beispiel, trete ich nicht jedes Jahr in der selben Stadt auf. Vielleicht einmal alle drei, vier Jahre. In Madrid spiele ich vielleicht alle vier Jahre. Oder in Vigo, wo ich lebe, gibt es nur ein Konzert in drei Jahren. Aber manchmal ist es eben auch schön, noch etwas unbekannter zu sein.

So habe ich also für den Moment Ideen und Arbeit für die nächsten Jahre, doch das Problem ist, dass mir die Zeit fehlt. Aber Ideen habe ich noch viele….

Carlos, herzlichen Dank für dieses interessante Gespräch und die Zeit, die du dir vor deinem Konzert hier in Lörrach heute Abend genommen hast.

Photo Credits: Carlos Núñez: (1) (Promo); (2)-(8) (by The Mollies).


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© The Mollis - Editors of FolkWorld; Published 03/2009

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