FolkWorld Fiction von Tom Keller

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Eine Kriminalgeschichte Teil 2

Mittwoch: Der stämmige Körper Zwanzigers lag grotesk verrenkt vor der monumentalen Schrankwand seines Büros. Ich befreite einen kleinen Zettel aus den fleischigen Fingern. Mit einem Kugelschreiber hatte jemand mit zittriger Hand vier knappe Zeilen festgehalten:

Die Herren Zwanziger die Henker sind,
Die Diener ihre Schergen,
Davon ein jeder tapfer schindt,
Anstatt was zu verbergen.
Freitag: »Wird langsam gewalttätig, unser kleines Städtchen«, dachte ich, als ich die wöchentliche Polizeibilanz überflog.

Diese gewöhnlichen Sex- & Crime-Storys direkt aus dem prallen Leben.

Die große Welt da draußen hat ihre Entsprechung im Kleinen. Am Montag war in die Räume des Paritätischen Wohlfahrtverbandes eingebrochen und einunddreißig Euro erbeutet worden. Am Dienstag sprühte ein betrunkener Jungspund einem Kontrahenten Tränengas ins Gesicht, der ihm dafür einen Bierkrug gegen den Kopf schleuderte. Am Mittwoch war ein Polizeibeamter beschuldigt worden, er habe sich von Prostituierten mit Gefälligkeiten bestechen lassen. Am Donnerstag stach ein Mann seine Lebensabschnitts-gefährtin mit dreizehn Messerstichen nieder und stürzte sich anschließend selbst von einer Fußgängerbrücke.
    Zwanziger war schon gar keine Meldung mehr wert.
    Doch nicht diese gewöhnlichen Sex- & Crime-Storys direkt aus dem prallen Leben fesselten meine Aufmerksamkeit, sondern die übergroßen, blutroten Lettern auf der Titelseite:

Tod eines Arbeiterführers!

Demnach fand der Portier des Hotels Glück Auf den Gewerkschafts- funktionär Feldmann ermordet in einem der Hotelzimmer auf. Ich las interessiert weiter.

Die gerichtsmedizinische Untersuchung bestätigte, dass der Betriebsratschef der Automotronix AG mit einem Federkissen erstickt worden war. Es wird nun nach einer dunkelhäutigen, groß gewachsenen Frau gefahndet, die nach Aussage des Portiers zusammen mit dem Gewerkschafter in dem Hotel abgestiegen war. Aller Wahrscheinlichkeit nach handelt es sich bei der Frau um eine Prostituierte. Die Polizei fand folgendes Inserat in der Brieftasche des Toten: »Grazia, Brasilianerin, schöner Kussmund, Strapse aller Farben, spezialer Service.« [4] Sachdienliche Hinweise auf den gegenwärtigen Aufenthaltsort der Frau nehmen alle Polizeidienststellen entgegen.
    Keinen Reim konnten sich die ermittelnden Beamten bislang auf ein Stück Papier in der Hand des Gewerkschafters machen, auf dem die Worte geschrieben standen: »Der Reihe nach folgt Fellmann jetzt, ganz frech ohn' alle Bande. Bei ihm ist auch herabgesetzt, das Lohn zur wahren Schande.« Wie Hauptkommissarin Schultze-Döneken mitteilte, ist ein Zusammenhang mit der am Vortag erfolgten Ermordung des leitenden Automotronix-Mitarbeiters Zwanziger nicht auszuschließen. (Fortsetzung auf Seite 3)
Uppsala! Und damit meinte ich nicht die Stadt in Schweden, sondern verlieh meinem Erstaunen Ausdruck. Fellmann, Feldmann. Nun ja, nahe dran. Der Druckfehlerteufel hatte wieder einmal zugeschlagen. Oder ein wild gewordener Analphabet war am Werk gewesen und hatte sich im Opfer geirrt. Pech für die Arbeitnehmervertretung.
    Auf Seite 3 folgte eine Würdigung, die schon in der Schublade des Redakteurs gelegen haben musste.
Als Vorsitzender des Gesamtbetriebsrates der Automotronix AG vertrat Feldmann die Stimme der Arbeitnehmer. Der gelernte Elektroinstallateur absolvierte eine klassische Gewerkschafts- karriere: vom Vertrauensmann zum Betriebsrat, vom Mitglied des geschäftsführenden Betriebsausschusses an die Spitze des Gesamtbetriebsrates. Feldmann repräsentierte den klassischen Arbeiterführer. Sein Auftreten war einfach, seine Sprache klar und direkt. Seine verbalen Kämpfe focht er nicht mit dem eleganten Florett aus, sondern mit dem panzerbrechenden Zweihänder.
    In der Belegschaft war Feldmann nicht unumstritten. Der häufigste Vorwurf lautete, er habe eine zu große Nähe zum Management entwickelt. Mit Vorstand und Aufsichtsrat verband ihn ein Stillhalteabkommen: das Unternehmen durfte in Billiglohnländern Werke bauen und exklusive, aber insolvente Elektronikfirmen erwerben, dafür verschonte es die deutschen Fabriken. Dies sollte Arbeitnehmer wie Aktionäre zufrieden stellen. [5]

Ich hatte kaum die letzten Zeilen gelesen, da klingelte das Telefon.
    »Vorzimmer vom Papst. Ja?«
    »Guten Morgen. Hier spricht Danowski, Sekretariat …«
    »Alles klar, Fräulein Danowski. Der Heilige Vater ist ganz Ohr.«
    »Dr. Van Aken verlangt Sie zu sprechen. Einen Augenblick bitte, ich verbinde.«
    Frau Van Aken kam sofort zur Sache. »Die Polizei war gerade bei mir. Sie haben sicherlich in der Morgenzeitung von Herrn Feldmann gelesen?«
    »Habe ich, in der Tat.«
    »Wir müssen unbedingt noch einmal miteinander reden.«
    »Schießen Sie los!«
    »Persönlich, nicht am Telefon.«
    »Auch kein Problem. Ich bin schon unterwegs.«
    »Nein, nicht hier im Büro. Wie wäre es heute Abend? Acht Uhr. Kennen Sie die Casa Rustica?«
    Auch nicht schlecht. Ich sagte zu und hoffte, dass die Firma zahlte. Wann bekommt unsereins denn schon mal eine Einladung in die Casa Rustica.
    Unter anderen Umständen hätte eine Verabredung mit einer attraktiven Dame mir warm ums Herz werden lassen. Aber Zwanziger und Feldmann gingen mir nicht aus dem Sinn. Offensichtlich war derselbe Täter am Werk gewesen und ich wusste das besser als die Polizei. Angesichts des bevorstehenden Dates, ich meine, angesichts des bevorstehenden Geschäftsessens konnte es nicht schaden, wenn ich mich etwas schlauer machte.
    Nun, ich musste sowieso mal wieder zum Friseur gehen.

Die gerichtsmedizinische Untersuchung bestätigte, dass der Betriebsratschef der Automotronix AG mit einem Federkissen erstickt worden war.

V

Direkt um die Ecke hatte sich Otto seine kleine Existenz geschaffen und einen seit Jahrzehnten vorhandenen Frisiersalon übernommen. Obwohl es nur ein paar Meter waren, war ich klatschnass, als ich den Laden erreichte. Es war nämlich Hochsommer. Aber einer von der Sorte, in dem heftige Schauer mit grimmiger Kälte abwechselten. Die jungen Mädchen waren viel zu dick in ihre Textilien eingemummelt, die alten Mütterchen trugen ihre behaarten Lieblinge in ihren Handtaschen spazieren und die klügeren Zeitgenossen hatten sich in wärmere Gefilde abgesetzt. Nur die Rübenbauern freuten sich über den kältesten Sommer seit vierzig Jahren.
    Zumindest ersparte ich mir heute das Haare waschen.
    »Sich rähchn bringd Sähchn«, begrüßte mich Otto in einer dem Deutschen verwandten Sprache, während ich auf das Linoleum tropfte. »Daach ooch, Meester Domm. Isses Lähm noch frisch?« Ich fühlte mich in das Herz Sachsens hineingeworfen. Otto hielt eisern an den überkommenen Sitten und Gebräuchen seiner Ahnen fest.
    Oddou dorr Grouße, dorr Saggsengaisorr. Manche würden das für eine vulkanische Springquelle halten. Otto hatte eine zeitlang damit geliebäugelt, seinen Salon ›Kaiserschnitt‹ zu nennen. Böse Zungen hätten allerdings lieber ›Cut & Hide‹ gesehen. So blieb es schlicht bei Otto’s Haarstudio. Mit Apostroph.
    »Was macht die Kunst?«
    »Dä Gunst gähd nohm Broud«, zitierte Otto die Klassiker. »Morr gännde heiln.« Man könnte Untertitel gebrauchen.
    Viel los war nicht mehr, seitdem Geiz-ist-geil-Konsumenten auch beim Haarstyling zunehmend auf Diskounter setzten. Es könnten allerdings auch Kommunikationsschwierigkeiten zwischen Ost und West dafür verantwortlich sein, dass ich umgehend auf seinem Drehstuhl Platz nehmen konnte.
    Otto besann sich auf die alte Geschäftsdevise ›Der Kunde ist König‹ und versuchte sich so verständlich wie möglich zu artikulieren. Soweit es ihm möglich war. »Wie isses? Die Zoddeln nicht zu kurz? Löffel frei?« Während Otto mir ein Cape um den Hals legte und Schere und Kamm zückte wie ein Musketier seinen Degen, warf ich einen skeptischen Blick in den Spiegel und betrachtete meine äußere Erscheinung. Es hätte schlimmer sein können.
    »Genau. Wie immer.«
    Der gesprächige Sachse scheitelte mein zerzaustes Haar und begann zu schneiden, während er plauderte. Oder umgekehrt. Otto klagte darüber, dass die Amigos von der Isar glaubten, sie hätten einen höheren Iguh als der Rest der Republik. Die höheren und niederen Sachsen eingeschlossen. [6]
    »Intelligenz säuft bekanntlich«, sagte ich zusammenhangslos. »Es war schließlich Welfenherzog Heinrich, der München gegründet hat.«
    »Gut gebrüllt, Leewe.« Er seufzte. »Ich weeß ooch nich. Mihr Gaffeesaggsen sind den Bierwännsden ä Schdachel im Ooche, noarr?«
    Ich unterbrach alsbald Ottos Redeschwall. »Sag mal, mein umtriebiger Figaro, was redet man denn so über den Zwanziger?«
    »Zwannzcher? Ei forrbibbch.« Ich brauchte Otto nichts erklären. »Dein Zwannzcher war ein großes Tier war er. Der Haderlump der. Hatte gute Gonnegdschiens. In der Schiggeria und Heissosseiädie als wie auch in der Wirdschoffd und Bollidigg.«
    »Sag bloß. Na, so weit hat er es nun auch wieder nicht gebracht. Das war doch höchstens mittleres Management.«
    »Richdch, zuguterletzt. Aber die Audomodroniggs hatte den Zwannzcher in die Puschda geschickt.«
     Der gute, alte Otto mit seinen Antennen für Klatsch und Tratsch war einfach unbezahlbar.
    »Was für Schwulitäten waren denn dafür verantwortlich?«
    Otto fuhr sich durch das schüttere Haar und erzählte die Geschichte vom ruchlosen Karrieristen, der vergeblich versucht hatte, seinem Vorgesetzten die Stuhlbeine abzusägen. Nichts Genaues weiß man nicht. Ich hatte mir meinen Friseur nach der Zuverlässigkeit der erhältlichen Informationen ausgesucht, aber die Hintergründe lagen auch für Otto weitgehend im Dunkeln. Er brachte es auf die unfeine Formel: »Der Zwanzcher wollte seinen Scheff figgen.«
    Im Sinne von fehchln oder im Sinne von derohrisiern?
    Damit war die steile Karriere Zwanzigers jedenfalls erst einmal beendet worden. Er hatte sich eine Weile in den ausländischen Vertretungen herumgetrieben, bis er eine zweite Chance bekommen hatte. Aber der erneute Aufstieg wurde gewaltsam gestoppt, bevor er richtig begonnen hatte. Ob Zwanziger ein Wiederholungstäter gewesen war? Ich versuchte mir, die resolute Frau Van Aken wie weiland Sharon Stone mit einem Eispickel vorzustellen. Was mir unschwer gelang, aber außerordentlich missfiel.
    »Ja, das war schon ein falscher Zwanziger.« Als ob ich das nicht schon vorher gewusst hatte.
    »Des iss waa.«
    »Hm. Sag mal, gab es da eine Beziehung zwischen Zwanziger und dem Feldmann? Abgesehen davon, dass sie für denselben Verein gearbeitet haben.«
    »Tuste eigentlich gar keine Zeitung lesen?«
    »Nicht mal den Sportteil.«
    »Ginggorrliddzchn. Der Boulevardteil ist interessant. Der Feldmann war ein Schwergewicht im wahrsten Sinne des Wortes. Ä Fäddsagg, ä Schwabbl, änne Donne war der. Eine schwere Prüfung für jeds rass’che Weib.«
    »Oho, ein Schwerenöter also«, setzte ich die Wortspielerei fort. Otto begann damit, mir die Spitzen zu schneiden. »Ich wusste gar nicht, dass eine graue Feldmaus von der Gewerkschaft so einen Stich bei den Mädels hat.«
    »Habense ooch nich. Aber Möpse machen säggsie, heje? Die Spatzen tun doch von den Dächern pfeifen, dass der Feldmann Ga-Ga war: gorrubd und geiflisch!«
    So sieht das aus. Der Manager von heute begünstigt Betriebsräte und Gewerkschaftsspitze, um Arbeitsplätze und Arbeitsbedingungen in seinem Sinne abzuwickeln. Vom Abwickeln konnte Otto ein Liedchen singen.
    »Sing, mein Sachse, sing!«
    Otto beugte sich verschwörerisch vor. »Der Pascha der hatte so eine merkwürdige Vorliebe für kaffeebraune Schönheiten. Da ging ihm der Zuckerhut hoch.«
    Das konnte ich mir gut vorstellen: in der Öffentlichkeit markige Reden schwingen und als aufrechter Recke gegen den Steinzeitkapitalismus ziehen. Und hinterher gehen die Kontrahenten gemeinsam auf ein paar Gläschen Schampus und kuscheln sich unter dieselbe Decke. Wenn es die Bettdecke der nackten Maja oder der lüsternen Ludmilla ist.
    In den gehobenen Kreisen der Spitzenmanager und Spitzenfunktionäre lud man ein zu Lustreisen rund um den Globus. In Fünf-Sterne-Hotels nach St. Petersburg, auf Jachten ins Mittelmeer und an Traumstrände in die Karibik. Eine Braut in jedem Hafen, während die Gattin zuhause mit Schmuck und Psychopharmaka ruhig gestellt wird. Und Arbeitslohn in Form von Reisen oder Dienstwagen setzt der findige Geschäftsmann zudem noch von der Steuer ab.
    Das nennt man Globalisierung.
    Und nun war ein Gewerkschaftsfunktionär mit einer Vorliebe für dunkelhäutige Schönheiten aus der Dritten Welt mit einem Kissen erstickt worden. Gerade in dem Augenblick, als er Entwicklungshilfe geleistet hatte.
    »Und der geile Bock hat sich vom Management schmieren lassen?« Mit der Trimmmaschine rasierte Otto meinen Nacken aus, um meinem Kopfschmuck den letzten Schliff zu geben.
    »Großes Pionierehrenwort.« Ich habe keine Ahnung, was er damit sagen wollte.
    Otto richtete sich auf. »Ä wolla. Färrdsch.« Er war sichtlich stolz auf sein Werk. Ich zahlte daher großzügig über Tarif.

VI

Der Fahrer des Kombis drückte auf die Hupe, als ich in Gedanken versunken und ohne auf den Verkehr zu achten die Straße überquerte. Ich rettete mich gerade noch rechtzeitig auf den gegenüberliegenden Gehsteig. Das Auto preschte an mir vorbei. »Idiot«, bellte es aus dem runter gekurbelten Seitenfenster heraus. »Keine Augen im Kopf, was?« Der Motor heulte auf, als der Fahrer in den zweiten Gang zurückschaltete. Einen Augenblick später bog er mit quietschenden Reifen bei Dunkelgelb um die nächste Ecke. Zurück blieben nur der Geruch von verbranntem Gummi und zwei Bremsspuren auf dem Asphalt.
    »Teppichflieger«, knurrte ich hinterher. »Das ist hier keine Autostrada.«
    Es war aber keine tiefer gelegte Gebetsmühle, sondern NATO-Müller gewesen. Er hatte von uns diesen Namen aufgrund des Aufklebers mit dem vierzackigen, weiß-blauen Stern des Militärpaktes hinten auf der Stoßstange erhalten. Der Geschwindigkeit seines Gefährts nach zu urteilen, ging es mindestens zum Dritten Weltkrieg oder wo immer auch solche Leute hinfuhren.
    Ich setzte meinen Weg fort. Manchmal fragte ich mich, ob dem alten Herrn über uns nicht etwas aus dem Ruder gelaufen ist. Möglicherweise hatte er bei der Erschaffung der Welt eine schlechte Woche gehabt. Oder ihm war am siebenten Tag finanziell die Puste ausgegangen. Nicht gerade ein erheiternder Gedanke, dass die Welt nur das Ergebnis negativen Cashflows ist.
    Die Hauptstraße war in den letzten Jahren durch verkehrsberuhigende Maßnahmen mehr und mehr in einen Nebenschauplatz verwandelt worden. Der Durchgangsverkehr war aus der Straße herausgenommen und die Straße selbst mit der Fußgängerzone vernetzt worden. Nahezu ein idyllisches Cityleben war entstanden. Sieht man einmal ab vom Parkplatzkrieg der Möchtegerne, die mit ihren Geländewagen zum Shoppen fuhren, und den Quälgeistern, die in den zweirädrigen Fortsetzungen ihrer Geschlechtsorgane um die beiden Brunnen herumjagten.
    An diesem Vormittag hatte sich die Straße in einen Marktplatz verwandelt. Links und rechts hatten die fahrenden Händler ihre Stände und Buden aufgeschlagen und priesen lautstark ihre Ware an. In der Luft lag eine irritierende Geruchsmischung aus Backwaren und Fisch, gedünsteten Zwiebeln und gegrillten Hähnchen. Männer und Frauen hasteten eilig vorbei, um ihr Ziel zu erreichen, bevor der nächste Schauer niederging. Zwischen Gemüse und Kartoffeln, Leder und Plastik paradierten Glatzen mit ihren Rassehunden. Punks mit stacheligen, bunten Haaren bettelten mal um eine Mark (oder das moderne Äquivalent dazu). Hautenge Leoparden-Leggins und Cowboystiefel. Bauchfreie T-Shirts, Piercings von den Augenbrauen bis zum Ursprung der Welt. Ein tragbarer Kassettenrekorder plärrte deutsche Schlager und Konkurrenz machte ihm nur die bolivianische Straßenmafia, die ununterbrochen ›El Condor Pasa‹ flötete.
    Und das ist nur die Oberfläche. Die im Dunkeln sieht man nicht.
    Ich kaufte eine Dose Tiefkühlfutter für meine schuppigen Haustiere. Dann scherte ich aus dem Menschenstrom aus und nahm einen kleinen Umweg in Kauf, um einen sinnenden Blick auf die Betonfestung zu werfen, die sich Gewerkschaftshaus nannte. Ein Wahlplakat von Anno Tobak zeigte Gevatter Marx mit der Sprechblase: ›Kapitalismus-Kritik – Das Original!‹
    Unsere Großsiedlung ist das Symbol des Widerstandes der Arbeiterbewegung schlechthin. Nach dem vermasselten Endsieg unsererseits wollte die britische Besatzungsmacht die gesamten Hüttenwerke dem Erdboden gleichmachen. Die Gewerkschaften hatten die Demontage der Industrieanlagen verhindert und die Stahlöfen wieder zum Laufen gebracht. Nachdem der braune Spuk vorbei war, hatte sich unsere Ortschaft erst einmal prächtig entwickelt. Doch die Rezession der letzten drei Dekaden war nicht spurlos an der Stadt vorbeigegangen. Die Straßen verfielen, Schwimmbäder wurden geschlossen, die Straßenbeleuchtung nachts ausgeschaltet. Und Kultur – ach Kultur – war schon in guten Zeiten eher kleingeschrieben worden. Was die Tommys nicht geschafft hatten, machten wir selber. Es war kein gutes Zeichen, dass just in diesem Sommer drei von vier Kaminen der Sinteranlage abgerissen worden waren. Das markante und weithin sichtbare Wahrzeichen der Stadt. Sechsundsechzig Jahre lang hatten die hundertfünfunddreißig Meter hohen Schornsteine das Bild der Landschaft geprägt.
    Ich überlegte, ob bereits Zeit für eine Portion Geschnetzeltes in Fladenbrot bei Ali sein mochte. Stattdessen beschloss ich, einem guten, alten Freund einen Besuch abzustatten. Schließlich waren es nur ein paar Schritte.

Die Rezession der letzten drei Dekaden war nicht spurlos an der Stadt vorbeigegangen. Es war kein gutes Zeichen, dass just in diesem Sommer drei von vier Kaminen der Sinteranlage abgerissen worden waren. Das markante und weithin sichtbare Wahrzeichen der Stadt. Sechsundsechzig Jahre lang hatten die hundertfünfunddreißig Meter hohen Schornsteine das Bild der Landschaft geprägt. [Photo by ??]

»Moin, moin«, grüßte ich, als ich das Café Literata betrat. Eine Glocke über der Tür kündigte mein Kommen an. Hinter der in leuchtenden Farben gestrichenen Fassade verbarg sich eine Oase der Ruhe und des Friedens für gestresste Stadtnaturen. Es gab hier weder seichte Hintergrundmusik, noch eine elektronische Kasse und Strichcodes. Nur Feinkost und Fakten.
    »Moin, Tom.« Hippie sah auf. Er las in einem großformatigen Folianten mit dem Titel ›Wo Siegfried starb und Kriemhild liebte‹. »Wie geht’s, wie steht’s?«
    »Man schlägt sich so durch, sagt Vitali zu Wladimir Klitschko.« Ich deutete auf den Hochglanzband. »Interessant?«
    Die Antwort war wieder einmal typisch Hippie.

Uns ist in alten Maeren Wunders vil geseit:
Von Helden Lobebaeren, von grozer Arebeit,
Von Vreude und Hochgeziten, von Weinen und von Klagen,
Von küener Recken Striten muget ir nu Wunder hoeren sagen. [7]
»Aber sonst geht’s gut?«
    Hippie seufzte und dichtete weiter. »Wie man’s nimmt. Zur Zeit machen wir den meisten Schotter, was glaubst du wohl: mit Harry Potter.« [8]
    »Eh klar. Aber mit der Nibelungen Not kann man sich wohl kaum über Wasser halten.«
    Das Café Literata war Café und Buchhandlung in einem. Eine Idee, die Hippie von einer seiner legendären Touren an die Westküste von Irland mitgebracht hatte. [9] Und zwar lange bevor es cool gewesen war und die großen Buchhandlungen auf ähnliche Gedanken gekommen waren. Im ersten Raum standen Regale vollgestopft mit Büchern, im Hinterraum befand sich das Café. Ich ging an der museumsreifen Kasse vorbei und ließ mich an einem der knorrigen Holztische nieder. Umgehend hatte ich eine dampfende Tasse Tee und einen Korb mit Äpfeln und Käse vor mir stehen. Hippie hätte seinen Laden lieber Teestube nennen sollen.
    »Souchong! Das Original, direkt vom Mount Wuyi. Gerade hereinbekommen. Die großen Teeblätter werden in Bambuskörben über einem Feuer mit Fichtennadeln getrocknet. Die weniger Glücklichen müssen sich damit begnügen, zu ihrem Assam eine Zigarette zu rauchen.«
    »Danke.« Ich spielte nicht lange den gemächlichen Teetrinker, sondern gab Hippie sogleich den Zettel mit dem eigentümlichen Vers. »Sagt dir das irgendetwas?«
    Hippie ließ nachdenklich den Blick über das Blatt Papier wandern und kratzte sich den Bart. »Zwanziger, hat's den nicht gerade zerlegt? Las irgendwas in der Zeitung darüber.«
    Nach einer Weile klärte sich sein Blick auf und er wurde aufgeregt wie ein kleines Kind. »Das Blutgericht, na klar.«
    »Blutgericht? Kann man das essen? So wie Blutwurst. Oder Blutsuppe mit Maden und Würmern.«
    »Du als alter Musiker …«
    »Na!«
    »Du, als noch nicht ganz so alter Musiker! Das enttäuscht mich. Hast du wirklich noch nie vom Blutgericht gehört?«
    »Nicht dass ich wüsste. Ist das eine Vorspeise für Death-Metal-Gitarristen?«
    »Das ›Blutgericht‹, Tom, ist ein Protestsong aus dem schlesischen Weberaufstand des Jahres 1844. [10] Du solltest nicht so viel Trivialliteratur konsumieren, sondern mal einen Blick in den ›Großen Steinitz‹ werfen.«
    Hippie dachte wohl, ich würde mich mit Playmates auf Hochglanzpapier amüsieren, während er sich mit dem kategorischen Imperativ plagte. Er sollte mich mittlerweile besser kennen, aber ich ließ ihn in dem Glauben.
    »Aha. Ein Kochbuch?«
    »Nicht ganz.« Hippie angelte ein abgegriffenes Lexikon aus dem Regal. Im Nu fand er die gesuchte Seite und trug in mechanischem Ton die wichtigsten Passagen vor als lese er eine Gebrauchsanweisung.
Steinitz, Wolfgang. Geboren Breslau (Schlesien) 1905, gestorben Berlin (Ost) 1967. Jüdischer Volkskundler und Linguist. Nach seinem Lehrbuch erlernte eine ganze Generation von Schülern nach 1945 die russische Sprache. Als Direktor des Instituts für deutsche Volkskunde sorgte er für die Demokratisierung der ›völkischen‹ deutschen Ethnologie. Statt auf die Konservierung von Aberglauben, Sagen und Mystik konzentrierte Steinitz sich auf die Erforschung der materiellen und geistigen Kultur des werktätigen Volkes mit ihren Widersprüchen und historischen Veränderungen. Besondere Bedeutung erlangten seine beiden 1954 und 1962 erschienenen Sammelbände ›Deutsche Volkslieder demokratischen Charakters aus sechs Jahrhunderten‹, die deutlich machten, dass es neben der Heilen-Welt-Folklore eine weithin unbekannte, wegen ihrer Sozialkritik verschwiegene Tradition deutschen Liedguts gab. [11]
Hippie klappte das Lexikon zu. »Ich habe ein Exemplar bei den Antiquaria stehen. Für zwanzig Euro ist es dein.«
    Ich tat so, als hätte ich sein Angebot nicht gehört, und rührte im Tee. »Es lebe die humanistische Bildung«, lobte ich ihn. »Es erstaunt mich immer wieder, auf welchen Themengebieten du so alles bewandert bist.«
    »Was man nicht im Kopf hat«, er tippte sich an die Stirn, »muss man im Bücherregal stehen haben.«
    In der Tat. Ohne die helfenden Hinweise der grauen Eminenz aus dem Café Literata wäre ab diesem Kapitel nicht mehr viel passiert.

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Fußnoten: Brasilianerin, schöner Kussmund, Strapse aller Farben, spezialer Service.
[4] Die Annonce Grazia, Brasilianerin, … ist kein Witz (s. rechts).
[5] Eventuelle Ähnlichkeiten mit einem hochrangigen Gewerkschafts-Funktionär einer bekannten deutschen Automarke, der 2005 gewaltige Schlagzeilen machte, sind natürlich … überhaupt nicht zufällig und durchaus beabsichtigt.
[6] O-Ton des Amigos von der Isar Ede Stoiber: »Ich akzeptiere es nicht, dass letzten Endes erneut der Osten bestimmt, wer Kanzler wird … Es darf nicht sein, dass letztlich die Frustrierten über das Schicksal Deutschlands bestimmen.« (04.08.2005) »Nur die dümmsten Kälber wählen ihre Metzger selber!« (05.08.2005) »Wenn es überall so wäre wie in Bayern, hätten wir keine Probleme. Nur, wir haben leider nicht überall so kluge Bevölkerungsteile wie in Bayern.« (10.08.2005) Wolfgang Steinitz' ›Deutsche Volkslieder demokratischen Charakters aus sechs Jahrhunderten‹ machten deutlich, dass es neben der Heilen-Welt-Folklore eine weithin unbekannte, wegen ihrer Sozialkritik verschwiegene Tradition deutschen Liedguts gab.
[7] Uns ist in alten Maeren Wunders vil geseit: Das Nibelungenlied. Text: Passau, um 1200. Hippie liest: Walter Hansen, Wo Siegfried starb und Kriemhild liebte, Verlag Carl Ueberreuter, 1997.
[8] Zur Zeit machen wir den größten Schotter, nun raten sie mal: mit Harry Potter. So lautet das Original-Zitat in dem Kinderlied ›Werbung muss sein‹ von Michael Zachcial (s. FW#31).
[9] Das originale An Café Liteartha, das Hippies Alter Ego seit 1998 im Geiste mit sich herumträgt, befindet sich in der Dykegate Street im irischen Städtchen Dingle. Sowohl das Café als auch der Ort bilden den Schauplatz von Andreas Eschbachs Geschichte ›Der Letzte seiner Art‹ (Lübbe 2003). Leider ein Beispiel dafür, wie man's nicht machen sollte: So gibt es keinen benachbarten Ort namens Ballintaggart; dies ist nur eine Flurbezeichnung. Man benötigt für die rund 60 km von Tralee bis Dingle keine 2 Stunden mit dem Auto; selbst ein deutscher Tourist nicht. Paul Newman spielt auch nicht die Hauptrolle in ›Ryan's Daughter‹.
[10] Das Blutgericht zu Peterswaldau. Text: Schlesien 1844, Musik: 15. Jhd. (Es liegt ein Schloss in Österreich). Zum Schlesischen Weber- aufstand 1844 siehe: Wikipedia, TR62.
[11] Wolfgang Steinitz: Volkskundler, Sammler und Herausgeber der Volkslieder demokratischen Charakters aus sechs Jahrhunderten: Lieder, die in bisherigen Sammlungen kaum oder gar nicht vorkamen, solche, die Klage, Protest und Aufbegehren ausdrückten, Antikriegslieder, Gesänge aus dem Bauernkrieg und aus der Revolution (s. FW#32).



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© The Mollis - Editors of FolkWorld; Published 11/2006

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