FolkWorld Ausgabe 37 11/2008; Live-Bericht von Walkin' T:-)M
Donnerstag. Erst einmal ankommen, heisst die Devise. Zwischen zwei Regenschauern wird das Zelt aufgebaut; es war eine weise Entscheidung gewesen, dass ich es am Vortag noch mit Imprägnierspray bearbeitet habe. Anschließend lasse ich mich zu einem Kaffee und einem Blick über Rudolstadt auf der Schlossterrasse nieder. Jetzt heisst es, wach zu bleiben und einen Überblick über das Programm des 18. TFF.Rudolstadt zu bekommen. Es gilt Israel, Rahmentrommeln, Sachsen, Rock'n'Roll und vieles mehr zu entdecken.
Länderschwerpunkt Israel:
Magisches Instrument Rahmentrommel:
Focus Regional Sachsen:
Tanz des Jahres Rock'n'Roll:
Deutscher Weltmusikpreis RUTH:
Rudolstadt 1991-2007 |
Bis Mitternacht bleibt es äußerst feucht. Kein Wunder, im Vorprogramm des größten Folk-Roots-Weltmusik-Festivals von Deutschland wird ja auch Salsa geboten. Der 65jährige Oscar D'Leon, genannt El Sonero Mayor, der große Improvisator, schafft es, den Zuschauern im Hof der Heidecksburg eine heiße Tropennacht vorzugaukeln. Eine mit tropischem Regen.
Jaune Toujours @ FolkWorld: FW#15, #19, #22, #29, #34 Pas la, Piu lontano, Réfugiés sans Frontières |
Freitag. Es ist heiter bis wolkig, aber trocken. Der Fahrplan steht fürs erste; er wird noch oft genug an diesem Wochenende umgeworfen werden. Bis das TFF offiziell eröffnet wird, ist noch reichlich Zeit, die ich für eine kleine Wanderung nutze. Um 18 Uhr ist auf dem Marktplatz die offizielle Eröffnung und alle hoffen, dass der Moderator bloß nicht das Wetter erwähnt. (Er tut es, aber es wird vorerst keine negativen Auswirkungen haben.) Die Auftaktveranstaltung ist immer ein geeigneter Ort, um sich zu treffen und schon mal zu hören, welchen Interpreten man die nächsten Tage besser aus dem Wege geht.
Fremdenfeindlichkeit in Rudolstadt? |
Auf dem Neumarkt präsentieren Ex-Liederjan Wolfgang Rieck und die in Rudolstadt aufgewachsene Heike Kellermann [-> FW#32] ihr Programm "Was solln wir noch beginnen" mit Liedern des Dichters Theodor Kramer [-> FW#33]. Beide wirken etwas verloren, das Programm wäre sicherlich besser im Landestheater oder an einem anderen intimen Ort aufgehoben gewesen. Auf der Burgterrasse schaffen es Jaune Toujours [-> FW#34], die Menge zum Kochen zu bringen. Manch einer mag es kaum glauben, dass auch Belgien jenseits von Flamen und Wallonen multikulturell sein kann. Aber immerhin hat Brüssel einen Ausländeranteil von 25%, das muss irgendwann einmal abfärben. Im Heinepark setzen die Italiener Riserva Moac [-> FW#37] die gute Stimmung fort. Das Septett aus der mittelitalienischen Stadt Bojano veranstaltet eine Folk-Punk-Party mit keltischen Einflüssen und politischen Texten. Die beiden Sänger Mariangela Pavone und Fabrizio Russo, Akkordeonist Roberto Napoletano und Zampogna- und Gaita-Spieler Aldo Lezza werden von Stromgitarre, Bass und Schlagzeug unterstützt. Das macht allen Spaß. Man muss nur aufpassen, dass nächstes Jahr nicht Pogo der Tanz des Jahres wird.
Riserva Moac @ FolkWorld: FW#37 |
ulman @ FolkWorld: FW#33, #33, #34 |
Kann das noch getoppt werden. Nun, ulman [-> FW#34] stehen schon in den Startlöchern. 1994 war die sächsische Familienkapelle Gewinner des Deutschen Folkförderpreises (damals hieß das noch nicht RUTH); nach zehn Jahren Pause haben sie eine neue CD aufgenommen und wurden prompt Preisträger des Wettbewerbs Creole - Weltmusik in Deutschland. Aber auf der großen Bühne im Heinepark? Schaffen sie das? Sie schaffen. Ulman sind härter und rockiger als auf ihrer CD. Das Drum-Kit peitscht vorwärts. Drehleier, Posaune, Geige und Akkordeon werden durch den Verzerrer geschickt. In deutschen Landen gibt es wohl kaum eine vergleichbare Band. Allerdings gibt es auch ein paar Tiefpunkte, z.B. eine müde Rap-Einlage oder der Gesang der schwedischen Sangesschwestern Kraja [-> FW#36] von Freund Computer eingespielt.
Im Konzertzelt im Heinepark spielen Izabo. Aber anstatt israelischem Pop-Rock-Verschnitt - ein paar schräge Töne allein machen noch keine Roots/World-Musik - gehe ich mal hinüber ins Tanzzelt. Dieses Jahr hat man einen PVC-Belag auf das Holzparkett gelegt, dadurch wird die Beinarbeit der Tänzer akustisch etwas gedämpft, sodass Bands wie die englische Climax Ceilidh Band, die französischen La Machine und die portugiesischen Uxu Kalhus auch für den Nur-Zuhörer ein Genuss darstellen.
Samstag. Die Straßenmusikanten sind die ersten auf den Beinen. Überall werden Unterschriften gegen die erklärte Schließung des Berliner Senders Radiomultikulti gesammelt [-> FW#36]. Auch RUTH-Preisträger Christoph Borkowsky wird die Preisverleihung am Abend für ein Statement nutzen. Schafft 2, 3, viele ... radio multi kulti! steht auf seinem T-Shirt.
Auf dem Theaterplatz singen Lavatera aus Mecklenburg deutsche Volkslieder. Kein Klampfenfolk, aber auch nicht experimentell-verfremdet ist das ein guter Einstieg für den Tag. Die "Dunkle Wolk" erklingt bei strahlend blauem Himmel. Passend zum Wetter grooven Etran Finatawa [-> FW#37], die Sterne der Tradition, auf der Heidecksburg. Die Band aus dem Niger besteht aus Musikern der beiden ethnischen Gruppen der Tuareg und der Woodabe. Gesungen wird in den Sprachen der beiden Völker. Ungeübten Ohren fällt da kein Unterschied auf, auch musikalisch ist ihr Wüstenblues aus Stromgitarren und Perkussion nicht auseinanderzuhalten.
Etran Finatawa @ FolkWorld: FW#37 @ worldmusic.net @ youtube.com |
Billy Bragg @ FolkWorld: FW#13, #23 |
Was nun? Bayrische Blasmusik und dazu eine kalte Schale Weissbier? Ich entscheide mich für ein heißes Getränk. Glücklicherweise läuft sich Billy Bragg schon zum Teebeutelweitwurf warm [-> FW#23].
Von den ersten Akkorden von Leon Rosselsons Revolutionslied "World Turned Upside Down" an begeistert die One-Man-The-Clash-Show mit Strom- und Akustik-Gitarre. Billy Bragg musiziert, predigt und agitiert wie in den guten, alten Zeiten, und zum Schluss wird gemeinsam gesungen: I don't want to change the world, I'm not looking for a new England, I'm looking for another girl... Er singt aber nicht nur die alten Klassiker, sondern auch die leiseren Stücke des aktuellen Albums "Mr Love & Justice" und Woody-Guthrie-Vertonungen wie "Way Over Yonder in the Minor Key" und "Ingrid Bergman" [-> #36]. Er liebt eben Folk- und Punk-Musik (nicht unbedingt in dieser Reihenfolge). Nach der Zugabe fliegt der Teebeutel durch die Luft und - mir in die Fresse! Das ist Punk!
Die Madagascar All Stars laden zum relaxen ein; bei der polnischen Psio Crew [-> FW#37] steigt der Adrenalinspiegel wieder. Die traditionelle Kapela Styry aus dem Dorfe Beskid Slaski ist mit dem Sound-Bastler Dobry Goral auf den Dancefloor-Trip gegangen. Schrille archaische Gesänge und ein Overkill von vier Geigen treffen auf Elektronica, Dub und Drum'n'bass. Langsam wird es dunkel. Karl Seglem [-> FW#28, #31] bläst auf dem Bockshorn archaische Weisen und auf dem Saxophon düsteren Nordic Jazz. Die Stücke sind alle in verhaltenem bis mittlerem Tempo, aber es groovt gut. Das merkt nach 45 Minuten auch der letzte im Publikum und erhebt sich.
Madagascar All Stars (v.l.n.r.): Justin Valli, Regis Gizavo, Erick Manana |
Mitternacht. Geisterstunde. Tam Lin. The Imagined Village [-> FW#35] ist Simon Emmersons neues Bandprojekt, der mit den Afro Celts [-> FW#10, #10, #10] schon keltische Weisen und afrikanische Rhythmen durch den Fleischwolf gedreht hat. Diesmal wird mit Martin Carthy [-> FW#20] und Tochter Eliza Carthy [-> FW#26, FW#37], sowie Chris Wood [-> FW#35] und Andy Cutting [-> FW#16] englische Folkmusik heimgesucht. Das multikulturelle Element ist das der außereuropäischen Einwanderer, insbesondere indischer, vertreten etwa durch die Sitar-Spielerin Sheema Mukherjee und Musiker von Transglobal Underground und der Dhol Foundation. Das imaginäre Dorf ist global; Billy Bragg singt "England, Half English" und einen neuen Text zu "Hard Times of Old England". Aber irgendwann ist auch gut, ein allzu fetter Sound ist der Verdauung und einem ruhigen Schlaf nicht förderlich.
Sonntag. Hey, Mister Tambourine Man, play a song for me ... Das Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris gilt als Ursprungsland der Rahmentrommel [-> FW#36], aus dem arabischen Wortstamm tab soll das Wort Tamburin entstanden sein. Hunderte Jahre später kommen palästinensische Vertreter wie Itamar Doari, aber auch Caito Marcondes und Glen Velez zu dem von Wolfgang Meyering [-> FW#36] begleiteten Magic Instrument-Projekt. Leider bin ich zu dieser Tageszeit noch nicht ganz aufnahmebereit und verpasse sogar das vielgepriesene Löffelsolo des irischen Bodhran-Spielers Tommy Hayes.
Erika Stucky [-> FW#35] ist wahnsinnig witzig. Die US-Schweizerin verbindet mit Jon Sass (Tuba) und Ex-Global Kryner Sebastian Fuchsberger (Posaune -> FW#30) Blue Yodels mit Naturjuutzen. Das Lästermaul Stucky macht an und vor nix halt, spielt mit der Stimmung im Publikum, selbst Jürgen B. Wolff [-> FW#26] kriegt sein Fett ab, als der Maler der grüsigen Bühnenbilder. Vor einem dieser Monumentalgemälde müht sich Embryo ab. Das Musiker-Kollektiv um den Perkussionisten Christian Burchard ist seit 1969 aktiv. Damals gab es den Begriff Weltmusik noch gar nicht und auch heute hat Embryo nicht viel mit dem Ethnopop zu tun, der unter diesem Begriff vermarket wird. Die auf der Bühne ständig wechselnden Besetzungen spielen auf der einen Seite Ethnomusik aus Asien, auf der anderen Seite Jazzrock. Ich gehe, bevor ich herausfinden kann, ob beide Welten in diesem Konzert noch zusammenfinden.
Erika Stucky @ FolkWorld: FW #35 @ Killer Queen, Love Hurts, Whiter Shade of Pale |
Fanfare Ciocarlia @ FolkWorld: FW #32, #33 @ Kan Marau La, Pana Can, Sandala |
Gráda [-> FW#33, #34] haben ein irisches Tief mitgebracht. Musikalisch geht es allerdings hoch her. Die irische Band leistet sich den Luxus von drei Zugaben. Auch das ein Rudolstadt-Novum; ein weiteres ist, dass es auch nach dem Abschlusskonzert auf dem Markt noch für die bis Montag bleibenden TFF-Fans auf einigen Bühnen weitergeht. Der krönende Abschluss sind die rumänischen Fanfare Ciocarlia, die bereits im Kinderprogramm musikalische Clowns gegeben haben. Seriöser geht mit Gastsängern und -sängerinnen das Projekt Gypsy Queens & Kings [-> FW#33] über die Bühne.
Aber davon kriege ich nichts mehr mit. Bei mir ruft die Heimat und ich rufe mit den Worten des vor 120 Jahren verstorbenen Rudolstädter Mundartdichters Anton Sommer zurück: 's giht doch nischt iber Rudolstadt.
Eine der schönsten Gegenden Deutschlands nannte Wilhelm von Humboldt
die ehemalige Residenz Rudolstadt,
die bereits im 8. Jhd. als slawischer Siedlungsplatz erwähnt wurde.
Ab dem 18. Jhd. bemühten sich die Grafen von Schwarzburg-Rudolstadt aus ihrer Residenz
ein Klein-Weimar zu machen. 1793 wurde ein Theater eröffnet,
an dem auch das Weimarer Hoftheater unter Leitung Goethes spielte.
Im Sommer 1788 begegnete hier Schiller zum ersten Mal Goethe
und holte sich in einer Glockengießerei Anregungen zu seinem Gedicht "Von der Glocke".
In Rudolstadt waren Franz Liszt, Richard Wagner und Niccolo Paganini tätig.
Über der Stadt thront die dreiflüglige Heidecksburg .
Heute ist in dem Schloss das Thüringer Landesmusem Heidecksburg untergebracht.
Es beinhaltet ein Museum zur Regionalgeschichte. Zu besehen ist u.a.
eine Stuckdecke von 1636, ein Spiegelkabinett von 1720 sowie ein
über zwei Stockwerke reichender Rokoko-Festsaal mit einem von Atlas getragenen, vorwölbenden Musikantenbalkon.
Eine weitere Sehenswürdigkeit Rudolstadts ist das kleine, aber feine
Freilichtmuseum Thüringer Bauernhäuser
im Heinrich-Heine-Park, das älteste Freilichtmuseum Europas,
mit zwei original eingerichteten Fachwerkhäusern aus den Jahren 1667 bzw. 1700.
Wer sich etwas körperlich betätigen will, dem sei eine kleine Wanderung empfohlen:
Vom Festival-Parkplatz in den Saale-Wiesen die Saale entlang nach Süden,
den Schillerlehrpfad am Geologischen Naturdenkmal "Rudolstädter Riviera" und
aufgelassenen Terrassen des ehemaligen Weinbaus vorbei
nach Oberpreilip mit dem weithin sichtbarem Kirchturm.
Steigt man den Berg weiter hinauf kann man im Kulmberghaus Rast machen,
von wo man einne schönen Blick auf die Feengrottenstadt Saalfeld hat.
Saalfeld liegt
am Nordrand des Thüringer Schiefergebirges,
wo der Oberlauf der Saale endet und die Flussaue beginnt.
Ihren Beinamen Steinerne Chronik erhielt Saalfeld
wegen zahlreicher erhaltener Bauwerke verschiedener Epochen.
Die Hauptattraktion ist das Schaubergwerk mit den
laut Guinness-Buch der Rekorde farbenreichsten Schaugrotten der Welt.
Zwischen 1540 und 1846 wurde hier Alaunschiefer abgebaut.
Im Laufe der Jahrhunderte sind in den verlassenen Stollen durch Auslaugung
und Oxydation buntschillernde Tropfsteine aus Eisenphosphat entstanden.
Höhepunkt einer Besichtigung ist die Gralsburg mit dem Märchendom,
hier sind die Tropfsteine 440 Jahre alt und bis zu 1,60 m lang.
Siegfried Wagner, Sohn des Komponisten, hat in den 1920ern eine Nachbildung
als Bühnenbild für den Tannhäuser bauen lassen.
10 km nordwestlich von Saalfeld liegt
Bad Blankenburg,
wo 1839 der Pädagoge Friedrich Fröbel den ersten deutschen Kindergarten errichtet
hat. Das Städtchen liegt am Eingang/Tor zum wildromantischen Schwarzatal.
Der Nebenfluss der Saale hat auf 53 km ein Gefälle von über 500 m und
bildet zwischen Blankenburg und Schwarzburg eine tief eingeschnittene Felsenschlucht
im Thüringer Schiefergebirge.
15 km westlich liegt die 1105 gegründete und 1534 säkularisierte
Klosterruine Paulinzella,
von dessen Tempels Säulen Schiller dichtete.
Singen scheint ein unbedeutenes Dorf zu sein, beheimatet aber mit der
Brauerei Schmitt
die kleinste Brauerei Thüringens.
Der Einmann-Betrieb braut mit einer über 100 Jahre alten Dampfmaschine
pro Woche rund 2.000 l Bier, die in Holzfässern in einem Felsenkeller gelagert werden.
|
Photo Credits:
(1) Jaune Toujours,
(2) Riserva Moac,
(4) Etran Finatawa,
(5) Billy Bragg,
(11) Rudolstadt, (13) Oberpreilip (by Walkin' Tom);
(3) ulman,
(6)-(8) Madagascar All Stars,
(9) Erika Stucky,
(10) Fanfare Ciocarlia
(by Tom Kamphans); (12) Heidecksburg (by The Mollis).
Zur englischen FolkWorld |
© The Mollis - Editors of FolkWorld; Published 11/2008
All material published in FolkWorld is © The Author via FolkWorld. Storage for private use is allowed and welcome. Reviews and extracts of up to 200 words may be freely quoted and reproduced, if source and author are acknowledged. For any other reproduction please ask the Editors for permission. Although any external links from FolkWorld are chosen with greatest care, FolkWorld and its editors do not take any responsibility for the content of the linked external websites.