Bluegrass ist relativ jung, zwischen 1942 und 1946 entstanden. Bluegrass war die Popmusik der Südstaaten. Auf meinen Reisen habe ich dort Menschen – keine Hinterwäldler - getroffen, für die auch heute noch der Bluegrass die einzige Musik ist, die sie je gehört haben.
Mittlerweile ist nahezu die gesamte erste Generation der Bluegrassmusiker verstorben. Als Bill Monroe, der Vater des Genres 1996 starb, gab es noch hinreichend Weggefährten, die mit teilweise richtungsweisenden Projekten und Tonträgern die Fackel weitertrugen. Ralph Stanley hat seiner Version von “I´m A Man of Constant Sorrow” (1951) über die Filmmusik zu „O Brother Where Art Thou“ (2000) neues Leben eingehaucht, mit „The Three Pickers“ (2003) haben Doc Watson, Earl Scruggs und der inzwischen nahezu 60jährige Ricky Skaggs eine kongeniale Liveproduktion aufgenommen. Die CD „Earl Scruggs and Friends“ (2001) zeigt, daß die Bedeutung des Bluegrass und seiner Gründer weit in die Welt des Rock, Pop und Blues hinausreicht. Auf der CD finden sich nämlich so illustrere Gäste wie Elton John, Melissa Etheridge, Sting, Don Henley, Billy Bob Thornton, Steve Martin, Johnny Cash und andere.
In diesem Jahr, 2012, haben allerdings eine bedeutende Anzahl meiner frühen Bluegrass-Helden ihren Abschied genommen. Ein Merlefest (durchschnittlich 30.000 Besucher) mit Doc Watson werde ich nicht mehr erleben können. Ein Earl Scruggs Konzert (letzte Europatour 2005?) werde ich nicht mehr sehen können. Everett Lilly (Lilly Brothers) und Doug Dillard sind auch nicht mehr.
Stirbt der „echte“ Bluegrass aus? Die Frage stellte sich mir 1996, als Bill Monroe starb. In diesem Jahr stellt sich die Frage für mich nicht.
Es hat sich über die letzten sechzehn Jahre gezeigt, welche Strahlkraft der Bluegrass hat, wo man unvermutet Bluegrass findet, wo überall Bluegrasseinflüsse zu spüren sind, so daß ich meine, der Bluegrass ist zu neuen Ufern aufgebrochen.
Erfreulich ist, daß die Traditionalisten nicht allein gelassen werden. Bekannte Künstler zollen dem Bluegrass in seiner Urform mit herausragenden Projekten Tribut, z.B. Ricky Skaggs (Honoring The Fathers of Bluegrass, CD), The Del McCoury Band (Old Memories: The Songs of Bill Monroe, CD).
Daneben zeigt sich, daß in menschlicher und musikalischer Weise den Musikern und Hörern die Tür zum Bluegrass an absolut ungewöhnlichen Orten geöffnet werden. Die eheliche Verbindung zwischen dem Bluegrass- und „World Music“-Mandolinist Mike Marshall und der international bekannten klassischen Mandolinenvirtuosin und Dozentin Caterina Lichtenberg bringt bei ihren gemeinsamen musikalischen Projekten dem klassisch interessierten den Bluegrass und dem Bluegrasser den klassisch musikalischen Ausblick. Für den interessierten Mandolinisten gibt es z.B. die europäische Mandolinenakademie bei der Bundesakademie in Trossingen eben mit u.a. Mike Marshall aber auch dem Bluegrass- und Jazzmandolinisten Don Stiernberg. Das Internet ermöglicht es, Bluegrass persönlich bei musikalischen Großmeistern für einen relativ günstigen Preis zu lernen. Als unermüdlicher Botschafter in Sachen Bluegrass erweist sich der Komiker, Schauspieler, Filmemacher und Bluegrass-Banjospieler Steve Martin. Seine Symbiose mit der großartigen, jungen Bluegrass Kapelle „Steep Canyon Rangers“ bringt excellente Musik und Lacher in gleichem Maße. Alt und neu verbindet die Zusammenarbeit zwischen dem Gitarristen Michael Daves und dem Mandolinisten Chris Thile („Sleep With One Eye Open, CD“). Der mit dem mit 500.000 US-Dollar dotierten McArthur-Stipendium ausgezeichnete Thile sprengt daneben die Grenzen zur Klassik mit seinen Bach Interpretationen und ist ein fester Bestandteil der Jamgrass Scene mit seiner international tourenden Kapelle Punch Brothers. Deren Musik, die den Nerv der hippen Latte Macchiato Generation trifft ist für mich glücklicherweise auch mit traditionellen Elementen durchzogen, so daß sich weltweit eine breite Zuhörerschaft erschließt. Daneben nehme ich mit Zufriedenheit Formationen wie die im Bluegrass verwurzelten Lovell Sisters zur Kenntnis, die in Europa hauptsächlich in alternativen, der Bluegrass Scene abgewandten Clubs auftreten und Hardcore Bands wie Hayseed Dixie, die die Grenzen zum Rock und anderen Stilen brachial einreißen.
Deshalb bin ich der Ansicht, daß der Bluegrass auf einem guten Weg ist. Die beschriebenen Beispiele zeigen, Bluegrass ist jung, dynamisch, sexy, integrativ, kreativ, frisch, ideenreich, offen… Die Liste der Attribute ließe sich weiter fortsetzen.
Typisch deutsche Diskussionen darüber, daß man sich von Hut- und Stiefelträgern, Westernfans, Kirchgängern, Motoradrockern, Jazzern u.a. musikalisch abgrenzen möchte, sollten deswegen schon überflüssig sein. Denn der echte Bluegrass reicht über alle Schranken die Hand. Das zeigt sich am besten bei Besuchen von Bluegrasskonzerten, Festivals und Jam Sessions.
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Olaf Gläsmer / Bluegrass Jamboree