FolkWorld Ausgabe 40 11/2009

Editorial
von Karsten Rube

Liebe FolkWorldleser,

der Fernsehsender Arte feierte in diesem Jahr den Summer of the 80's und beglückte den Zuschauer mit Musik und Kultur von einem, so scheint es manchmal, fremden Planeten. Andere Sender kramen bereits seit Monaten mit Chartshows musikalische Gespenster hervor, die zu Recht vergessen und begraben waren. Selbst Radiosender schalten zeitweise ihre computergenerierten Musikteppiche ab und fragen den Hörer, was sie denn schon lange nicht mehr hörten und nun endlich wieder hören wollen?

Erinnern ist In.

Zwanzig Jahre nach dem Mauerfall sind Rückblicke populär genug, um die allgemeine Einfallslosigkeit der Mediengestalter mit willkommenen Altlasten zu füllen. Man blickt auf Erfolge, zieht Bilanz, feiert sich. Gründe gibt es ja genügend. Zwanzig Jahre Ende des Eisernen Vorhangs sind zwanzig Jahre, in denen die Kultur ungehindert in alle Richtungen fließen, ja manchmal fluten durfte. Manch musikalisches Hochwasser hätte ich mir minder schwer gewünscht. Aber eine Bereicherung der Kultur ist es in jedem Fall. Massive Reggaeeinflüsse drangen von Westen herein. Kaum eine Musikszene ist heute so jamaikanisch wie die deutsche. Selbst die Politik spricht von Jamaikakoalitionen. Cubanismo drang bis in bayrische Bierzelte. Wer einmal die Cubaboarischen hörte, weiß, dass Tequila mit Weißwurscht auch seinen Reiz hat. Balkanbeats schwappten aus dem Osten, sodass manche Festivals fast nur noch aus hippeligen Brass- und Geigenderwischen zu bestehen schienen. Orientalbeats gehören zwar noch nicht ganz so selbstverständlich zu den Hörgewohnheiten wie der Döner zur Cola, aber Soul und Rhythm&Blues sind mittlerweile fester Bestandteil der deutschsprachigen Musik bis hinein in die grausigen Untiefen der Schlagerwelt.

Barry Graves Die Öffnung der Grenzen führte zur Fusion der Kulturen in jeder vorstellbaren und utopischen Konstellation. Und das ohne traditionelle Elemente nennenswert zu verdrängen. Musikalischen Wildwuchs findet man gelegentlich - der Eurovision Songcontest ist bedenklichstes Beispiel dafür. Doch die künstlerische Vielfalt, die sich weltweit entwickelte, ist ein wünschenswerter und positiver Aspekt der Globalisierung. Zwanzig Jahre Ende der sozialistischen Denkdiktatur bedeutet für viele auch zwanzig Jahre wiedergefundene Meinungsfreiheit. Die, die einst von Rede und Schreibbeschneidung betroffen waren, freuten sich endlich alles äußern zu dürfen, ohne Repressalien befürchten zu müssen. Sie haben erfahren dürfen, dass einem entweder keiner zuhört oder die Repressalien von anderer Seite zuschlagen. Dass statt diktatorischer Mundverbote heute lobbyistische oder wirtschaftliche Interessen zu Verzerrungen des öffentlichen Meinungsbildes führen und die allgemeine Terrorprävention manch Publikation an den Rand der Sprach- und Ausdrucksbehinderung bringt, ist eine aktuelle Erfahrung, die von der Zensur alter Prägung nicht soweit entfernt scheint.

Doch die gewonnene Freiheit wiegt mehr als die vielen Unzulänglichkeiten.

Wehmut befällt einem in der Betrachtung der letzten zwanzig Jahre ganz unmittelbar bei den Gedanken an die zu früh Gegangenen. Der Sänger Gerhard Gundermann sei hier erwähnt. Der singende Baggerfahrer ist auch im Rückblick noch immer einer der ganz großen deutschen singenden Poeten. Da findet sich bis heute in der Liederbestenliste trotz großem Bemühen und hervorragender Interpreten kaum nennenswert ähnliche Brillanz. An den streitbaren Musikjournalisten Barry Graves sei gedacht, dessen Todestag sich am 8. September zum 15. Male jährte und mit dem heute die deutsche Radiokultur etwas freundlicher aussähe. Auch an das geförderte Dahinscheiden hoffnungsvoller kultureller Projekte sei erinnert. Die Berliner Region war bei der kulturellen Sterbehilfe in den letzten Jahren besonders erfolgreich. Gleich mehrere Theater wurden dichtgemacht, Radiosender eingestellt oder in den medialen Ausguss reformiert, was zahlreiche zahlende Hörer sehr aufbrachte. An Emotionen waren die letzten zwanzig Jahre wahrlich nicht arm.

Der Blick nach vorn bleibt jedoch optimistisch. Denn Neues wächst auf den Ruinen der vertanen Chancen, neue Ideen, neue Projekte und immer wieder neue Musik, auf die wir von FolkWorld gern ein aufmerksames Ohr richten. So ist auch diese Ausgabe wieder randvoll von Konzertberichten, Neuigkeiten aus der Folk- und Worldmusikszene und CD-Rezensionen aus aller Herren und Damen Länder. Wie immer sind einige euphorisch, viele freundlich, andere verhalten und vereinzelte niederschmetternd. Da findet sich nun mal kein pseudoobjektiver Bestätigungsjournalismus wie in manchem Feuilleton und ganz bestimmt auch kein verlängerter Arm der Public-Relations-Abteilung, wie von einigen Künstlern und Labeln erträumt.

Musik ist durch alle Epochen und Stilrichtungen ein unmittelbarer Ausdruck von Gefühlen, vom Seelenzustand des Menschen. Der Grund, Musik zu machen, ist das Ausdrücken von Emotionen in der Hoffnung, diese auf den Hörer zu übertragen. Eine Form des freiheitlichen Gedankenaustausches übrigens, die zu unterdrücken sich kein noch so diktatorisches System je in der Lage sah.

Genießen wir also die Freiheit als Musiker und Hörer, Autoren und Leser, uns von der Musik zu Gefühlen und Gedanken hinreißen zu lassen und sie vorbehaltlos und zensurfrei zu äußern, uns darüber auszutauschen und uns dabei an Gewohntem zu erfreuen und Neues zu entdecken.

In diesem Sinne viel Spaß bei der Lektüre der neuen Ausgabe der FolkWorld. Karsten Rube



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© The Mollis - Editors of FolkWorld; Published 11/2009

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