FolkWorld Ausgabe 39 07/2009; Artikel von J.R. Geschke


Der Grosse Pan ist tot
Aber: Es kann sich lohnen, alte Lieder lebendig werden zu lassen

Wo sind eure alten Lieder?
(Franz Josef Degenhardt)
Sie sind Szenegespräch und sie werden neu auf CDs aufgenommen: alte deutsche Lieder. Manche trauen sich sogar, sie tatsächlich "Volkslieder" zu nennen, manche kokettieren fröhlich mit der in Verruf geratenen Begrifflichkeit. Man traut sich, und das Wort "Volkslied" provoziert sogar ein wenig.

Deitsch, Folk on the Water 2007

Deitsch @ FolkWorld:
FW #31, #32, #39, #39

Deitsch, Folk on the Water 2007

Icon Sound Königskinder, Vetter Michel
       Wacker Mädchen

www.deitsch.de
Andererseits fällt auf, dass die neuen Volkslieder-CDs, die übrigens nicht unbedingt von typischen Folk-Protagonisten gemacht sind, den Begriff vermeiden, wo es auf dem Cover um das Verkaufen geht: "Lieder von Liebe und Tod" (Bobo in White Wooden Houses), "Volxlieder" (Achim Reichel), "13 alte Lieder aus Deutschland" (Tine Kindermann), "Königskinder" (Deitsch), "Heimat - von fern so nah" (Degas/Weiser).

Noch etwas fällt auf: Öffentliche Anerkennung und sogar ein Szene-Preis rückt sogleich in greifbare Nähe, wenn arrivierte Musiker sich der Lieder annehmen: Eine Ruth (Deutscher Preis für Weltmusik) für Achim Reichel und dann eine für Bobo. Die Deutschfolk-Hüter und -Begeisterten jubeln und frohlocken.

Nicht alles, was da produziert wird, ist gut, nur weil es auf der Tradition deutscher Lieder beruht. Allein das Singen alter deutscher Lieder ist noch kein Wert an sich, auch wenn man den Deutschen das aus verschiedenen Glaubensrichtungen heraus über 200 Jahre lang hat weismachen wollen. Auf die Qualität der Lieder und der Darbietung kommt es an.

Was haben die Lieder schon alles erlebt: Johann Gottfried Herder hat die erste Retter-Euphorie der Volksliedsammler initiiert, damit die Lieder im ungelehrten Rundgesange erklingen mögen. Es galt, die unverfälschten Äußerungen der Volksseele zu erhalten. Dabei wurde diese Volksseele so gesehen, wie man es im Geiste jener Zeit gern wollte. Die Romantiker machten aus den Liedern ihre Lieder - und dichteten fleißig neue dazu. (Und warum auch nicht, Liedermacher zu sein ist ja wahrlich nichts Schlechtes.)

Die Vergötterung des sog. einfachen Volkes und seiner vermeintlichen Seele setzte sich beim Wandervogel fort im schwärmerischen Nacheifern jenes starken Menschen, der alle Entwicklungsformen und -möglichkeiten noch in sich trug, der nur recht von Herzen zu singen brauchte, um dem ganzen Volke Herzenskünstler zu werden. So schrieb es Hans Breuer im Vorwort zum "Zupfgeigenhansl", und er fuhr fort: Und kein Neutöner wird jenen allumfassenden Ton in seiner Brust mehr finden, der an das große Ganze klingt, der mitreißt zu einem mächtigen, einstimmigen Liede. Es folgte der Missbrauch im Nationalsozialismus, dessen Impetus 1945 selbstredend nicht beendet war,

Und dann ein großes Stück Befreiung durch die Entdeckung des Volksliedes demokratischen Charakters. Aber: Auch Wolfgang Steinitz hat einsortiert und aussortiert und hat sich das Volkslied so geformt, wie es in seine Sichtweise passte. Und das hat das Folkrevival dann übernommen: Hannes Wader war Volkssänger, die Lieder wurden auf ihren historischen oder politischen Gebrauchswert hin untersucht und, bevor sie gesungen werden konnten, in dieser Hinsicht genauestens wortgewaltig kommentiert.

Bobo "Lieder von Liebe und Tod"
Deitsch "Königskinder"
Tine Kindermann "Schamlos schön"
Achim Reichel "Michels Gold"
2duos "Until the Cows Come Home"

Tipp: www.liederlexikon.de
(Forschungs- und Publikations-
projekt des Deutschen Volkslied-
archivs in Freiburg)

Das hat die alten Lieder auf der einen Seite befreit aus den Fängen der Oberlehrer und volkstümlichen Kitscher. Das war (und ist) auf der anderen Seite aber durchaus auch wieder oberlehrerhaft und romantisch verklärt: die singend-demokratisch aufbegehrende angeblich politisch korrekte Volksseele.

Wie wäre es, wenn man die romantischen Götter und Vergötterungen für tot erklärte? Schluss mit dem Missionieren. Die Lieder und Melodien, die wir haben, sind es wert, kennen gelernt zu werden. Jeder und jede mag dann von Fall zu Fall entscheiden, ob die Lieder etwas sagen, ob sie textlich und musikalisch zum (heutigen) Leben taugen.

Volkslieder sind nicht ein Wert an sich. Der Große Pan ist tot. Aber viele alte Lieder, ob im Volkston gedichtet oder mündlich überliefert, sind es wert zu leben und gesungen zu werden. Es lohnt, sich aus dem reichen Fundus zu bedienen.

Übrigens: Die meisten der neuen Volkslied-CD-Produktionen sind so; sie machen alte Lieder lebendig und lassen tote Götter tot sein.

Der Text entstammt der Broschüre der LAG Folk Schleswig-Holstein
"Folkmusik in Schleswig-Holstein - Portraits & Kontakte 2009".

Photo Credits: (1) & (2) Deitsch (by Walkin' Tom).


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© The Mollis - Editors of FolkWorld; Published 07/2009

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