FolkWorld Artikel von Frank Schneider:

Erinnerungen an Erich Stockmann
Nachruf für einen der bedeutednsten Musikethnologen unserer Zeit

Am Sonntag,16.11.2003, im Alter von 77 Jahren, verstarb nach langer, schwerer Krankheit Prof. Dr. Erich Stockmann - einer der bekanntesten, international renommierten und weltweit kooperierenden Musikethnologen unserer Zeit. Aber er war nicht nur Fachmann auf einem Spezialgebiet, dem er besonders im Hinblick auf Theorie und Methoden europäischer Volksmusikinstrumente grundlegende Anregungen vermittelte und dem zahlreiche jüngere Forscher in aller Welt wichtige Impulse ihrer Arbeit verdanken. Er war darüber hinaus jahrzehntelang als geschätzter Organisator seiner Wissenschaft sowie als kulturpolitischer Repräsentant zahlreicher nationaler und internationaler Gremien auf musikalischem Gebiet tätig und leistete damit einen bemerkenswert mutigen persönlichen Beitrag zur friedlichen Verständigung über die politischen Grenzen hinweg, die der Kalte Krieg mehr oder weniger einschneidend diktieren wollte. Er war schließlich - oder besser: vor allem - ein großartiger Mensch, dessen Charisma ihn dazu bestimmte, Kollegen zueinander zu führen statt sie zu trennen, der immer, namentlich Ratsuchenden, zuhören konnte (und wollte) und aus dem reichen Schatz seiner Lebenserfahrung, seiner vielfältig diplomatischen Praxis stets trefflich abgewogenen Rat zu geben wusste oder in schwierigen Diskussionen mit raffiniertem Geschick und sanfter Gebärde unfehlbar der Runde einen friedlich-lösenden Weg aufzuzeigen vermochte.

Erich StockmannAus all diesen und manch anderen verdienstvollen Gründen wird er allen, die ihn kannten, schätzten und brauchten, jetzt fehlen und in Erinnerung bleiben als eine Persönlichkeit von unverwechselbarer Statur, als ein ruhender Pol des Wissens, des Verstehens, der Weisheit in einem Leben, das uns trotz allem vorwärts treibt und in den blinden Strudeln der Zeit einen Erich Stockmann uns sicher noch lang vermissen lassen wird.

Er stammt aus Stendal in der Altmark und begann 1946 sein Studium der Musikwissenschaft, Germanistik und Geschichte an der Universität Greifswald. 1953 promovierte er in Systematischer Musikwissenschaft zum Dr. phil. an der Humboldt-Universität zu Berlin mit einer Schrift über den "musikalischen Sinn der elektro-akustischen Musikinstrumente". Im gleichen Jahr wurde er Assistent am Institut für Deutsche Volkskunde bei der Deutschen Akademie der Wissenschaften in Berlin - einer reinen Forschungs-Großeinrichtung für fast alle Natur- und Geisteswissenschaften, an der er später als wissenschaftlicher Mitarbeiter und seit 1983 - aufgrund seiner Habilitationsschrift "Zur Theorie und Methode der Untersuchung von Volksmusikinstrumenten" - als Professor für Musikwissenschaft am später gegründeten Institut für Ästhetik und Kunstwissenschaften bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1991 wirkte.

Elf Jahre lang, von 1955 bis 1966, konnte er, seinen ausgeprägt pädagogischen Neigungen folgend, am musikwissenschaftlichen Institut der Humboldt-Universität musikethnologische und musikinstrumentenkundliche Vorlesungen halten, bis er aus politischen Gründen gezwungen wurde, seine Lehrtätigkeit aufzugeben. Die Weigerung, der SED anzugehören, verhinderte natürlich eine Karriere als Universitätslehrer, aber Stockmanns wachsende fachliche Autorität und geistige Integrität kamen seinen Forschungen letztlich zugute und ermöglichten - trotz zahlloser bürokratischer Schikanen - seit den 60er Jahren sein unermüdliches Engagement für die Entwicklung internationaler Wissenschafts-Kooperationen im Rahmen von Zielsetzungen und Strukturen der UNESCO. Dabei ging es vor allem in politischer Hinsicht um den weltweit ungehinderten Austausch von Forschungsergebnissen, um den Zugang zu den Quellen und nicht zuletzt um die Etablierung von Formen und Foren der menschlichen Begegnung und des wissenschaftlichen Erfahrungsaustausches. Hier erwies sich Stockmann als ein geradezu idealer, weltgewandter Manager, ohne dessen strategische und taktische Geschicklichkeiten vieles ungetan geblieben wäre. Andererseits waren damit in fachlicher Hinsicht Möglichkeiten eröffnet, die traditionelle eurozentristische Betrachtung und Bewertung der Musikgeschichte zugunsten einer vorurteilsfreieren, eigenwertigen Analyse der diversen Weltkulturen zu überwinden und das Moment universellen Zusammenhanges zu akzentuieren - eine gleichsam demokratische Denk- und Arbeitshaltung also, die er mit unnachgiebiger Leidenschaft lebenslang propagierte und praktizierte.

Als Wissenschaftler widmete sich Erich Stockmann zunächst der Erforschung deutscher Volksmusik und ihrer sozialen Funktionen. Seine Studien und Publikationen erweckten dabei nicht nur das Interesse der Fachwelt, sondern sie avancierten beispielsweise Jahrzehnte später als wichtige Quellengrundlage für die in West und Ost maßgeblich von der musikalischen Jugend getragenen Folk-Revival-Bewegung, und er selbst figurierte - obwohl längst auf anderem Terrain agierend - immer wieder als sehr praktischer Berater, Ideengeber und kritischer Begleiter in diesem Bereich.

In den 60er Jahren wurde er dann - wie bereits angedeutet - zum Initiator und Motor für die Zusammenarbeit der Volksmusikforscher in Europa. Ihm gelang schon im Jahre des Mauerbaus den Eisernen Vorhang zu überwinden und das bislang umfangreichste internationale Kooperationsprojekt der Musikethnologie zu etablieren: das "Handbuch der europäischen Volksmusikinstrumente", erarbeitet von Spezialisten aus allen europäischen Ländern. Seine eigenen theoretischen und methodischen Studien bildeten die wesentliche Grundlage für das Dokumentations-werk und natürlich für den gesamten Forschungszweig. Sie fanden über Europa hinaus etwa in Asien oder Lateinamerika viel Anerkennung und dienten dort als Basis für vergleichbare Projekte. Obgleich das "Handbuch" vielleicht Stockmanns wichtigste Pionierarbeit darstellt, bildete es wiederum nur den Ausgangspunkt für weitere kooperative Unternehmungen, die hier im einzelnen nicht aufgezählt sein sollen - mit Ausnahme der ebenfalls exemplarischen Publikationsreihe "Studia instrumentorum musicae popularis", die ab Mitte der 60er Jahre in bisher 11 Bänden erschienen und weltweit Beachtung fanden.

Erich Stockmann1964 wurde Erich Stockmann auf Vorschlag des bedeutenden ungarischen Komponisten Zoltán Kodály (der ihn übrigens persönlich schätzte und förderte) zum Ordentlichen Mitglied des Executive Board des International Folk Music Council, einer Institution der UNESCO, gewählt. 1982 wurde er Nachfolger von Kodály als Präsident dieses IFMC (später umbenannt in International Council for Traditional Music) und entwickelte in seiner 15jährigen Amtszeit die weltumspannende Umorganisation von einer eurozentrischen zu einer globalen Gesellschaft für Ethno-musikologie mit Mitgliedern aus über 100 Ländern. Sieht man diese Arbeit im Zusammenhang mit zahlreichen weiteren ehrenamtlich leitenden Funktionen in nationalen und internationalen Gremien, die Stockmann in einem Zeitraum von über 30 Jahren aktiv ausübte, dann dürfte sein persönlicher Beitrag zur Entwicklung des internationalen Musiklebens und der weltweiten musikologischen Kooperation kaum zu überschätzen sein. Namentlich seine unermüdlichen Forderungen und Mahnungen zur Zusammenarbeit über alle nationalen, religiösen, rassischen und ideologischen Grenzen bleiben unvergessen, auch weil sie ungeschmälert aktuell bleiben. Bereits zu seinen Lebzeiten fanden sie nicht nur in Fachkreisen international Anerkennung und ließen ihn vor allem in den Zeiten des Kalten Krieges zu einer wirkungsvollen moralischen Institution der Völkerverständigung werden.

Dabei hat sein weltweiter Horizont nie die Probleme vor Ort und zu Hause aus dem Blick verloren. Man denke beispielsweise an seine langjährige Tätigkeit für den Rundfunk, wo er - nicht zuletzt in diesem Sender - die Musik vieler Völker und Regionen der Welt in spannenden Dokumentations- und Diskussionssendungen vorstellte. Man erinnere sich in ganz anderem Zusammenhang an seine Rettungs-Aktion für das berühmte Berliner Phonogramm-Archiv mit seiner einmaligen Sammlung historischer Klangdokumente auf 20000 Wachswalzen, das er vor der allmählichen Zerstörung in der Akademie bewahren und nach der Wende seinem rechtmäßigem Eigentümer, dem vormals Westberliner Museum für Völkerkunde, zuführen konnte.

Schließlich sei noch an seine Tätigkeit als Vizepräsident des Musikrates der DDR von 1982 - 1990 erinnert, wodurch er entscheidend die internationale Verflechtung und Anerkennung des Musiklebens gegen die Abgrenzungs-Dogmatiker förderte und schließlich maßgeblich an der Vereinigung mit dem Musikrat der Bundesrepublik ohne Verwerfungen und in einem überwiegend harmonischen Prozess mitwirkte.

Auch in seinen Funktionen als Vizepräsident des neuen gesamtdeutschen Musikrates und letztlich als Ehrenmitglied des Internationalen Musikrates brachte er seine Autorität immer dann besonders manifest zur Geltung, wenn die Parität und Chancengleichheit beim Zusammenwachsen von Ost und West gefährdet zu sein schien. So hat er beispielsweise als Beirats-Vorsitzender eines der großen Projekte des Musikrats, der CD-Dokumentation "Musik aus Deutschland 1950 - 2000", das die Musikgeschichte in beiden Teilen des Landes klingend resümiert, vor manchen Angriffen und Gefährdungen - vor allem von Seiten durchaus fortexistierender Verfechter eines Kalten Krieges auch auf ästhetischem Gebiet - verteidigen und schützen können.

Als Editionsleiter dieses Projekts, zusammen mit Hermann Danuser, weiß ich nur zu gut, wovon die Rede ist, und dass mir unvergessen bleiben wird, was Erich Stockmann allein für dieses kleine Segment seiner Verantwortlichkeiten an Gutem und Nützlichem leistete.

Darüber hinaus habe ich einen Kollegen und Freund verloren, den ich fast ein Vierteljahrhundert kannte, schätzte und liebte. Da bleibt eine Lücke, die sich durch Erinnerung vorerst nicht schließen lässt. Und ich bin gewiss, dass viele mit mir sind, die ihn ebenso vermissen werden. Und er lebt ja auch weiter mit uns, wenn er nicht nur gelobt, sondern vor allem weiterhin gelesen wird und wenn bei so manchem Problem auch zukünftig sich sofort die Frage einstellt, was wohl Erich dazu gesagt, was er bedacht und geraten hätte.

Auch wenn er nicht mehr antworten kann, wird er, wenn wir es wollen, uns nahe sein und bleiben können.

 

Dieser Artikel ist eine Abschrift des entsprechenden Sendemanuskriptes, gesendet am 23.11.2003, 21.50 Uhr im DeutschlandRadio Berlin.
Der Autor, Prof. Frank Schneider ist Intendant des Konzerthauses Berlin und ein langjähriger Freund Erich Stockmanns

 


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© The Mollis - Editors of FolkWorld; Published 4/2004

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