FolkWorld Live Review 10/2000: Orginalabdruck ist in der lag folk news.

Viljandi Pärimus Muusika Festival 2000 in Estland

Eindrücke von Schmelztiegel


Von Erhard Ohlhoff

Groupa; photo by The Mollis Auf dem Flughafen in Tallinn sahen wir nach unserer Ankunft eine Gruppe Menschen mit verdächtigen Koffern im Warteraum herumlungern. Plötzlich stürzte einer auf Reinhards Drehleierkoffer zu und gab auf Französisch zu verstehen, dass er auch ... nicht möglich! - Doch: eine Folkgruppe aus der Bretagne war auf dem Rückflug nach einem Festival in Estland. Instrumente wurden ausgepackt, gespielt, gefachsimpelt, Adressen ausgetauscht. Das fing ja gut an ...

Nachdem wir im Laufe des Nachmittags noch Baltinget aus DK und Mats Eden (Groupa) und Mitspielern aufgesammelt hatten ging es im Bus nach Viljandi. Die Stimmung war gut und sollte sich noch steigern. Unsere Unterkunft war wie unser zu Hause und hieß auch so: Oma Kodu.. Alle Musiker des Festivals waren hier untergebracht, und mindestens beim Frühstück war Zeit genug zum Schnacken

Die Konzerte liefen auf zwei großen und diversen kleinen Bühnen sowie einer Offenen Bühne, wo das Programm spontan entstand und wo zugleich das Haupttanzzelt war. Alles also überschaubar, vor dem grandiosen Schauplatz der Ordensburgruine mit Blick über den See. Die Top acts waren ein Männerchor aus Georgien, der über 6000 Zuschauer anlockte, und Dervish aus Irland. Darüber hinaus sah man Gruppen aus Finnland (Troka), Schweden (Klezmer, Salsa) Mordvinien (ein Bruderfolk aus Sibirien) und alles, was an einheimischen Guppen Rang und Namen hatte.

Oder einen bekommen will - ein angenehmer Unterschied zu Rudolstadt, wo neben den internationalen Stars viele der deutschen Gruppen nur im Rahmenprogramm als Straßenmusiker spielen konnten.

Nach jedem Konzert verließen die Zuschauer die Konzertplätze und nach Soundcheck wurden die Karteninhaber wieder durchgelassen, alles ging in großer Ruhe ohne Zeitdruck vonstatten, die Organisatoren in blauen Festivalhemden hatten alles fest im Griff. Alles klappte wie am Schnürchen - ein großes Lob von unserer Seite! Jede Gruppe hatte eine große Zuschauerschar, und zu allen Gruppen wurde getanzt, auch im strömenden Regen. Regenzeug war immer dabei.

Dervish; photo by The Mollis Wir waren am zweiten Tag dran. Schon während des Soundchecks prasselte der Regen. Dann wurde die Leute losgelassen; der Platz zwischen den großen Bäumen und den Wallanlagen füllte sich schnell. Die Ansagen auf estnisch trafen wieder voll ins Schwarze, und die Gemeinde rückte näher. Eine größere Menge tanzte vor der Bühne, egal ob Walzer oder Zwiefachen. Der Rest stand und hörte zu, alle in bunter Regenkleidung.

Als die Sonne rauskam, füllte sich auch die traditionelle Holzschaukel, auf der sich stehend 20 Leute zur Musik wiegten. Drumherum waren Bier- und andere Versorgungsstände. Es verlief alles friedlich und gesittet, das Publikum bestand zum Großteil aus jüngeren weiblichen Fans, die den Ort, die Zeltplätze und Vorgärten mit 18000 Folkies füllten (in Tondern sollen 20000 gewesen sein). Der Eintritt war für die Esten nicht billig, aber man sparte eben drauf. Alle Konzerte wurden im Internet übertragen, und auf der Homepage des Festivals (www.folk.ee) kann man sie sich auf real video ansehen.

Am nächsten Tag wurden wir nach Otepää gefahren, wo wir für die deutsche Botschaft im Rahmen der deutschen Kulturtage auftraten. Spielstätte war der Hauptsaal des ehemaligen Schlosses, das zum Hotel umgebaut worden war. Auf der Freitreppe lief ein estnischen Nostalgiemitsingen mit Fernsehaufzeichnung. Danach dann wir. So bekam der süddeutsche Botschaftssekretär, wie auch die Zuhörer, zum ersten Mal die plattdeutsche Sprache zu hören, verstand natürlich genauso wenig wie die Esten. Aber unsere estnische Erläuterungen erfüllten ihren Zweck, und die Stimmung war sehr gut.

Im Eiltempo ging es dann zurück nach Viljandi, wo wir gerade noch den Auftritt von Dervish mitbekamen, die nach einer Anreise von Grenoble über Paris und Helsinki verspätet eingetroffen waren. Für die vielen Anhänger der irischen Musik war es einer der Höhepunkte; wir hatten natürlich andere Vergleichmöglichkeiten und waren wohl auch etwas überkritisch - egal. Die Post ging so richtig ab.

Jede ausländische Gruppe stellte ihre Musik in einem Workshop vor, und so mußten auch wir ran. Wir sangen mit dem Publikum die vorher verteilten norddeutschen Hits von Dat du min Leevsten büst bis Lustig Lustig, und alles sang mit. Selbst der Zwiefache wurde gelernt. Man zeigte für alles Interesse. Die Kamera lief für Archivzwecke mit.

Schmelztiegel, press photo Unsere zweiter Auftritt am Sonntag war auf einer kleinen Bühne. Dann bereitete man sich auf den Schluß vor: der Auftritt der Ool Staars Dorfkapelle, zu der die einheimischen Gruppen ihre Vertreter schicken und Schmelztiegel als Gast mit dabei war. Mit 15 Musikern wurde hemmungslos zum Tanz aufgespielt, unter der Regie von Margus Poldsepp von der Gruppe Untsakad, der mit lauter Stimme und vielen Gesten die Stücke auswählte, Tonarten bekanntgab, die Tanzform ankündigte und die Solisten aufrief, ein Heidenspaß! Plötzlich sahen wir draußen einen Scheinwerfer angehen.........., aber nein, es war bereits 4 Uhr morgens und taghell. Wir älteren Herren, pardon Markus!, zogen gut gelaunt von dannen, während die Esten wohl bis 6 Uhr weitermachten.

Am Dienstag morgen fuhren Teile der Truppe in halsbrecherischer Fahrt zum Flughafen nach Tallinn, während Erhard mit seinen fünf Schülern beim Kollege mit einem Handharmonikakursus beschäftigt war. Familie Linde zog nach Pärnu an die Ostsee um und verbrachte dort, später begleitet von Erhard, einen schönen Urlaub.

Ein Highlight dann noch auf der kleinen Insel Kihnu (600 Einwohner). Erhard fuhr mit verschiedenen estnischen Folkies zu einem Kurzaufenthalt, und oh Wunder,! im Laufe des Nachmittags tauchten Plakate mit der Ankündigung eines internationalen Tanzabends auf.

Nach Inselerkundung, Räucherfisch, ein wenig Wodka und drei Saunagängen traf man sich im kleinen Restaurant "Rock City", benannt nach einem Schiff, das um die Jahrhundertwende vor Dänemark verlorengegangen war. Nach kurzer Zeit trafen die Tänzerinnen ein, alle von 12 bis 50 in Volkstracht, und der Abend nahm seinen Lauf. Männer sah man nur wenige, sie würden eben schon immer nach harter Arbeit auf See lieber bei einer Flasche O-Saft beisammensitzen: So die offizielle Erklärung.

Fazit, wie schon beim letzten Mal: Fahrt selbst hin, es ist eigentlich unbeschreiblich!

Weitere Infos auf der festval homepage

Photo Credit: Photos (1, 2) by The Mollis, (3) Pressefoto: (1) Groupa, (2) Dervish's Cathy Jordan, (3) Schmelztiegel


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© The Mollis - Editors of FolkWorld; Published 10/2000

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